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Der Letzte Bus Nach Woodstock

Der Letzte Bus Nach Woodstock

Titel: Der Letzte Bus Nach Woodstock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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wenn das Fest geendet und das Licht erloschen,
    Dann fällt Dein Schatten, Cynara! die Nacht ist Dein;
    Ich bin allein und müd’ der alten Leidenschaft,
    Hungrig nach Deinen Lippen, die ich immer noch begehre:
    Ich bin Dir treu gewesen, Cynara, auf meine Art.
     
    Sie las die Strophe wieder und wieder. Sie hatte auf einmal das Gefühl, als ob hier etwas angesprochen würde, das auch sie anging, obwohl sie es so nicht nachempfinden konnte. Leidenschaft, Ernüchterung, Sehnsucht. Bernard würde damit vertraut sein. Es war ja sein Beruf, Gedichte zu analysieren und zu interpretieren. Doch sie konnte ihn nicht danach fragen.
    Er mußte seit Monaten unter einer furchtbaren Anspannung gestanden haben. Seit er angefangen hatte, jede Woche dieses Mädchen zu treffen. Wie lange wußte sie es eigentlich? Ganz sicher erst seit einem Monat, aber geahnt hatte sie es wohl schon sehr viel früher. Seit einem halben Jahr? Vielleicht sogar noch länger. Und vor dem Mädchen jetzt hatte es wohl auch schon andere gegeben. Die Kopfschmerzen gingen wieder los. Sie hatte in letzter Zeit schon soviel Aspirin genommen. Sollte es schmerzen. Was machte das noch. Wenn sie bloß ihre Gedanken abstellen könnte. Sie führten von den alltäglichen Dingen weg immer wieder zu ein und demselben Thema: Bernard und den letzten vier Tagen, der mühsam unter Kontrolle gehaltenen Panik und den immer unerträglicher werdenden Versuchen, die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten. Was konnte sie bloß tun? Sie wußte, irgend etwas würde geschehen. Bald.
    Bernard kam herein. »Mir tun ganz schön die Arme weh.«
    »Bist du mit der Hecke fertig geworden?«
    »Ich schneide morgen den Rest. Die Schere ist fürchterlich. Ich glaube, die ist seit unserem Einzug hier kein einziges Mal zum Schleifen gewesen.«
    »Du kannst sie jederzeit wegbringen.«
    »Und in sechs Monaten darf ich sie dann abholen.«
    »Du übertreibst immer so maßlos.«
    »Ich mache die Hecke morgen fertig.«
    »Morgen soll es Regen geben.«
    »Na hoffentlich. Hast du den Rasen draußen gesehen? Sieht aus wie die abessinische Steppe.«
    »Als ob du wüßtest, wie die aussieht.«
    Beide verstummten. Bernard ging zu seinem Schreibtisch und nahm einige Papiere aus der Schublade. »Ich dachte, du würdest fernsehen.«
    »Ich halte es im Wohnzimmer mit den Kindern nicht aus.«
    Bernard sah sie betroffen an. Sie war den Tränen nahe. »Ja«, sagte er, »ich verstehe dich.« Er betrachtete sie nachdenklich, fast zärtlich. Margaret, seine Frau. Wie gedankenlos er sie oft behandelte. Wie unverzeihlich gedankenlos. Er ging zu ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter.
    »Sie sind manchmal wirklich unausstehlich. Aber mach dir keine Sorgen. Alle Kinder in diesem Alter sind so. Weißt du was …«
    »Ach, hör doch auf. Das hast du mir doch alles schon tausendmal erzählt. Es ist mir inzwischen egal, vollkommen egal. Die Kinder können sich zum Teufel scheren – und du auch!«
    Sie begann, haltlos zu schluchzen, und rannte aus dem Zimmer. Oben schlug eine Tür. Sie hatte sich ins Schlafzimmer geflüchtet. Er lauschte. Sie weinte noch immer. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Es mußte etwas geschehen – und zwar bald. Sonst war er in Gefahr, alles zu verlieren. Vielleicht hatte er es sogar schon verloren. Konnte er Margaret die Wahrheit zumuten? Sie würde ihm nie verzeihen. Und wie sollte er sich der Polizei gegenüber verhalten? Er war gestern abend nahe daran gewesen, dort anzurufen und ihnen einiges mitzuteilen, wenn auch nicht alles. Er sah das aufgeschlagene Buch mit den Gedichten Dowsons. Margaret hatte es, als er hereinkam, beiseite gelegt. Sein Blick fiel auf die dritte Zeile der zweiten Strophe, und er begann zu lesen.
     
    Unzweifelhaft, die Küsse, die ich kaufte, waren süß;
    Doch jetzt bin ich allein und müd’ der alten Leidenschaft,
    Als ich erwachte, dämmert’ grau der Morgen:
    Ich bin Dir treu gewesen, Cynara, auf meine Art.
     
    Ja, dachte Crowther wehmütig, süß war das richtige Wort. Was da beschrieben wurde, hatte auch er gefühlt. Und auch er konnte sich an der Erinnerung nicht freuen … Zu bitter war der Nachgeschmack. Was würde er jetzt darum geben, wenn er alldem früher ein Ende gemacht, sich eher aus dem Netz von Lüge und Täuschung befreit hätte, in das er sich immer tiefer verstrickt hatte. Doch die Aussicht auf das Zusammensein mit ihr war zu überwältigend gewesen, die Verführung zu groß. Wenn nur sein Gewissen nicht wäre. Das verdammte

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