Der Letzte Bus Nach Woodstock
stellte den Plattenspieler ab. Es war auf einmal ganz still. Im Hinausgehen griff er nach den Autoschlüsseln auf dem Kaminsims.
Sein Posteingangskorb war bis zum Rand voll, aber er nahm es gar nicht wahr. Er schloß den Aktenschrank auf, langte nach dem Ordner, in dem die Unterlagen zum Mordfall Kaye aufbewahrt wurden, und suchte sich den Brief an Jennifer Coleby heraus. Er hatte doch gleich gewußt, daß damit irgend etwas faul war. Sein Mund war trocken, und ihm zitterten die Hände. Er fühlte sich wie ein Schüler, der gleich das langersehnte Abschlußzeugnis ausgehändigt bekommen soll.
Sehr geehrte Bewerberin,
nach eingehender Prüfung aller Unterlagen sehe ich mich leider gezwungen, Ihnen mitzuteilen, das wir Ihrer Bewarbung nicht entsprechen konnten. Da gedoch Anfang Novenber im Fachbereich Psychologie drei Stellen neu zur Besetzung anstehen, erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, ihre Bewerbung dann berücksitigen zu können.
Mit verbindtlichen Grüßen
Wie hatte er nur so vernagelt sein können! Anstatt sich mit hochgezogenen Augenbrauen über den vermeintlichen Schwachkopf von Verfasser zu mokieren, hätte er im Gegenteil allen Grund gehabt, ihm für seine Intelligenz und Gerissenheit Bewunderung zu zollen. Er selbst war der Schwachkopf, daß er sich so hatte hinters Licht führen lassen. Er hätte bloß genau hinzusehen brauchen, den Brief als Ganzes betrachten sollen. Aber er hatte sich, wie es seine Gewohnheit war, beinahe sofort auf die Fehler gestürzt. Das war ja fast wie ein Reflex bei ihm und hatte ihn vom Wesentlichen abgelenkt. Er hätte mehr auf sein Gefühl achten sollen. Irgendwie war ihm der Brief von Anfang an merkwürdig vorgekommen – mal abgesehen von den Fehlern. Schließlich war es ja überhaupt erst der Brief gewesen, der ihn veranlaßt hatte, Jennifer gleich gestern abend noch zu befragen. Er zog sich ein Blatt Papier heran und begann in fieberhafter Eile mit der Auflistung: ›das‹ – ›s‹ statt ›ß‹; ›Bewarbung‹ – ›a‹ falsch; ›Novenber‹ – das ›n‹ stimmte nicht; ›ihre‹ – das ›i‹ mußte groß geschrieben werden; ›verbindtlichen‹ – das wurde ohne ›t‹ geschrieben. SANIT. – Das ergab keinen Sinn. Vielleicht hatte er in der Aufregung ein paar falsche Buchstaben übersehen. Er fing noch einmal von vorne an. Ja, hier war ein weiterer Fehler. ›Gedoch‹. Das ›g‹ gehörte da nicht hin. Und weiter unten bei ›berücksitigen‹ fehlte das ›ch‹. Was hatte er jetzt? SAG NICHT – sag nicht? Sein Blick fiel auf die Unterschrift. Natürlich, das ›S‹, der einzig lesbare Buchstabe.
SAG NICHTS. Irgend jemandem war überaus viel daran gelegen, daß Jennifer schwieg. Und Jennifer hatte die Nachricht bekommen und sich dementsprechend verhalten.
Morse hatte für die Entschlüsselung der verborgenen Botschaft nicht mehr als zwei Minuten gebraucht und war jetzt im nachhinein sehr froh, daß er Jennifer gestern abend beim zweitenmal nicht angetroffen hatte. Sie hätte sich mit Sicherheit in neue Lügen geflüchtet und ihm vermutlich erklärt, daß es ihr leid tue, sie müsse sich da im Tag geirrt haben. Sie sei dann wohl am Donnerstag in der Bibliothek gewesen. Was nun den fraglichen Mittwochabend angehe, da könne sie ihm im Moment beim besten Willen nicht helfen. Sie würde aber natürlich darüber nachdenken und ihm dann Bescheid geben. Es sei gut möglich, daß sie einen Spaziergang gemacht habe – wenn, dann allerdings allein. Leider.
Angesichts dessen, was er herausgefunden hatte, würde sie sich jetzt nicht mehr so leicht herausreden können. Morse spürte jedoch merkwürdigerweise kein Gefühl von Triumph. Irgendwie imponierte ihm ihre Haltung auch, und er konnte nachempfinden, in welchen Konflikt sie durch seine Fragen gestürzt worden war. Darauf konnte er jedoch keine Rücksicht nehmen. Die Fakten sprachen eine deutliche Sprache. Sie schützte jemanden –, und zwar mit ziemlicher Sicherheit denjenigen, der Sylvia Kaye vergewaltigt und ermordet hatte. Kein sehr schöner Gedanke. Was sie bis jetzt wußten, legte außerdem den Schluß nahe, daß es Jennifer gewesen war, die am Abend des 29. mit Sylvia an der Bushaltestelle gestanden hatte und später mit ihr zusammen in das rote Auto gestiegen und nach Woodstock gefahren war, wo sie vermutlich etwas mitbekommen hatte, das nicht für sie bestimmt gewesen war. Um es kurz zu sagen: Jennifer Coleby kannte die Identität des Mannes, der Sylvia Kaye ermordet hatte.
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