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Der Letzte Bus Nach Woodstock

Der Letzte Bus Nach Woodstock

Titel: Der Letzte Bus Nach Woodstock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Gewissen. Er wußte, daß diese moralische Empfindlichkeit sein Schicksal war.
    Obwohl er kein gläubiger Christ war, war er überzeugt, daß die Behauptung des Paulus der Wahrheit entsprach: Der Tod ist der Sünde Sold. Er wünschte sich verzweifelt, wieder frei zu sein von Schuld und den quälenden Gewissensbissen. Zwei Zeilen aus seiner Kinderzeit fielen ihm ein.
     
    Sind deine Sünden auch rot, rot, rot,
    Sie sollen werden weiß, ja, weißer als Schnee.
     
    Das hatten sie damals im Religionsunterricht jedesmal geradezu hingebungsvoll geschmettert. Er wäre jetzt froh gewesen, wenn er im Gebet hätte Zuflucht finden können, aber er war sich bewußt, daß ihm diese Möglichkeit verschlossen war. Ihm waren die Worte dafür verlorengegangen. Die naive, inbrünstige Gläubigkeit von damals war für immer dahin. Wissen und Bildung hatten sie verdrängt, und ein milder Zynismus war an ihre Stelle getreten. In seinen ersten Jahren an der Universität hatte er sich noch mit wahrer Leidenschaft an den Diskussionen über theologische Paradoxien beteiligt. Doch auch sein intellektuelles Interesse an Religion war nun schon lange schal geworden. Weißer als Schnee . Schön wär’s. Grauschwarzer Matsch traf es wohl eher.
    Er trat zum Fenster und sah hinaus. In fast allen Häusern brannte schon Licht. Es waren nur wenige Leute unterwegs. Ein Nachbar führte seinen Hund über die Straße, damit er seinen Haufen nicht vor die eigene Haustür plazierte. Eine Fahrschülerin war dabei, ein Wendemanöver auszuführen. Sie tat sich schwer damit. Ein Fortschritt war mit bloßem Auge nicht zu erkennen, aber irgendwann im Laufe des Abends würde sie es sicher noch schaffen. Er bewunderte die Geduld des Fahrlehrers. Vor Jahren hatte er einmal versucht, Margaret das Fahren beizubringen … Das immerhin hatte er wiedergutgemacht. Sie hatte seit August ihr eigenes Auto – einen Mini. Er blieb am Fenster stehen. Gern hätte er noch gesehen, wie es klappte. Ein Mann ging vorüber. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, er wußte aber nicht, woher, und überlegte, wer er sein mochte und was er hier wollte. Er blickte ihm nach, bis er in die Charlton Road einbog.
     
    Morse, der solchermaßen beobachtet wurde, merkte nichts davon, denn er schenkte seiner Umgebung keine Aufmerksamkeit. Er konnte sich über seinen nächsten Schritt nicht schlüssig werden. Sollte er sich Jennifer gleich vornehmen? Das wäre wahrscheinlich das beste. Er war sich nur zu sehr bewußt, daß sein erster Besuch nicht gerade ein Erfolg gewesen war, und hielt es für angebracht, seinen neuen Anlauf sicherheitshalber vorher durchzuspielen.
    ›Sie haben noch mehr Fragen an mich?‹
    ›Allerdings.‹ Das mußte überlegen und abweisend klingen.
    ›Wollen Sie nicht hereinkommen?‹
    ›Danke.‹
    ›Nun?‹
    ›Sie haben mir bis jetzt nichts als Lügen erzählt. Es ist wohl am einfachsten, wir fangen noch einmal ganz von vorn an.‹
    ›Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen …‹ Er würde langsam aufstehen und ostentativ zur Tür gehen. Wortlos. Sie sollte wissen, daß er sich nicht ein zweites Mal von ihr an der Nase herumführen ließ. Er würde die Tür öffnen … Spätestens jetzt – so stellte er sich vor – würde sie klein beigeben.
    ›Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, Inspector.‹ Er würde sich wieder setzen. Er glaubte schon jetzt ziemlich genau zu wissen, was sie ihm erzählen würde.
    Daß er sich in diesem Punkt irrte, sollte er erst später erfahren. Zunächst einmal mußte er zur Kenntnis nehmen, daß Jennifer ausgegangen war. Sue lehnte in der Eingangstür und lächelte ihn an. Ihre bloßen Beine waren noch sanft gebräunt. Sie konnte ihm nicht sagen, wohin Jennifer gegangen war. »Wenn Sie wollen, können Sie gern hereinkommen und hier auf sie warten, Inspector.« Die Lippen leicht geöffnet, sah sie ihn erwartungsvoll an. Morse fühlte sich von einem Moment zum andern völlig wehrlos. Er rettete sich durch einen Blick auf die Uhr: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber … ich glaube, besser nicht.«

Kapitel 9 – Sonntag, 3. Oktober
     
    Morse schlief fast zwölf Stunden. Gegen halb neun wachte er auf. Er war am Abend zuvor nach seinem zweiten Besuch in der Charlton Road sofort nach Hause gefahren. Das unfruchtbare Grübeln über Jennifers Verhalten hatte ihn erschöpft, und zu allem Überfluß hatte er noch rasende Kopfschmerzen bekommen. Verschlafen vor sich hin blinzelnd, stellte er erleichtert fest, daß er sich wider Erwarten

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