Der Letzte Bus Nach Woodstock
durchdrehen.
An diesem Samstagnachmittag stand sie gegen halb sechs Uhr am Spülbecken und machte den Abwasch. Die stumpfsinnige Tätigkeit bot ihr wieder, wie so oft in letzter Zeit, Gelegenheit, mit dem Schicksal zu hadern. Sie hatte am Nachmittag zum Tee weiche Eier gekocht und sich dafür die freundliche Bemerkung Was – schon wieder? eingehandelt. Während sie hier mühselig das festgeklebte Eigelb von den Tellern kratzte, räkelten sich die Kinder im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Die nächste Stunde würde sie nichts von ihnen hören. Immerhin – sie war in ihren Ansprüchen ja bescheiden geworden – hatte Bernard sich dazu herbeigelassen, die Ligusterhecke hinter dem Haus zu stutzen. Sie wußte, daß er sich nur höchst ungern im Garten betätigte, aber sie sah nicht ein, daß sie ihm das auch noch abnahm. Sie wünschte, er würde etwas zügiger arbeiten. Die hingebungsvolle Sorgfalt, die er auf jeden Quadratzentimeter dieser verdammten Hecke verwandte, erbitterte sie. Nicht mehr lange, und er würde mittendrin aufhören und hereinkommen und darüber klagen, daß ihm die Arme weh täten. Sie betrachtete ihn wie jemand Fremdes. Sein Haar begann sich zu lichten, und er hatte Fett angesetzt. Aber wie es schien, wirkte er auf Frauen ja immer noch anziehend. Bis vor kurzem hatte sie es nie bereut, daß sie damals vor fünfzehn Jahren seine Frau geworden war. Und daß sie die Kinder bekommen hatte? Sie hatte sich diese Frage oft gestellt, aber nie endgültig beantworten können. Schon als die beiden noch ganz klein gewesen waren, noch bevor sie zu laufen begonnen hatten, war ihr aufgefallen, daß es ihr nie in den Sinn kam, so selbstverständlich und verzückt von ihren s ü ßen kleinen Lieblingen zu sprechen, wie dies die anderen Mütter scheinbar unentwegt taten. Diese Entdeckung hatte sie beunruhigt. Sie hatte sich ein Buch mit dem Titel › Die Mutter und ihr Kind ‹ besorgt, und war, nachdem sie es gelesen hatte, zu dem deprimierenden Schluß gekommen, daß die Mutterrolle ihr nicht lag, ja, daß sie, wenn sie ehrlich war, zugeben mußte, daß sie diese Rolle von ganzem Herzen verabscheute. Offenbar waren ihre mütterlichen Instinkte unterentwickelt. Als die Kinder in das Alter kamen, wo sie zu laufen anfingen, war sie besser mit ihnen zurechtgekommen, und gelegentlich hatte sie spontan das Gefühl gehabt, die beiden zu lieben. Aber jetzt, da sie älter wurden, schienen diese Momente der Zärtlichkeit unwiederbringlich der Vergangenheit anzugehören. Sie erlebte die beiden als egoistisch, nicht ansprechbar, rücksichtslos. Vermutlich trug sie selber die Schuld an dieser Entwicklung. Oder Bernard. Sie stellte die letzten Teller zum Trocknen in den Plastikkorb und sah dabei wieder in den Garten hinaus.
Der Tag ging zur Neige. Wieder einer dieser strahlenden Herbsttage. Damit würde es nun wohl bald zu Ende sein … Bernard stand seit fünf Minuten in Gedanken versunken. Sie hätte gerne gewußt, woran er in solchen Momenten dachte. Früher hätte sie ihn fragen können.
Die Wahrheit war – Margaret hatte dies seit Jahren undeutlich gefühlt, aber es vermieden, sich allzu genau darüber Rechenschaft zu geben –, daß Bernard und sie sich immer weiter auseinanderlebten. War auch das ihre Schuld? Sah Bernard überhaupt, was mit ihnen passierte? Sie glaubte schon. Sie wünschte, sie wäre stark genug, ihn zu verlassen, das alles hier aufzugeben, irgendwo anders hinzugehen und dort noch einmal von vorne anzufangen. Aber das waren natürlich nur Hirngespinste. Sie würde dableiben und versuchen, irgendwie durchzuhalten. Wenn es nicht zur Katastrophe kam. Oder mußte sie nicht eher sagen, bis es zur Katastrophe kam? Und dann, das wußte sie, würde sie zu ihm stehen – trotz allem.
Margaret wischte über die Abstellflächen rund um das Spülbecken, zündete sich eine Zigarette an und ging ins vordere Zimmer, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen und Bernard seinen Schreibtisch stehen hatte. Sie hatte jetzt einfach nicht die Kraft, sich den lautstarken Zankereien der Kinder im Wohnzimmer auszusetzen. Sie griff nach einem Band, in dem Bernard am frühen Nachmittag gelesen hatte. Ernest Dowson › Das dichter i sche Werk ‹ . Der Name war ihr aus ihrer Schulzeit vage bekannt. Sie blätterte das Buch langsam durch, bis sie das Gedicht fand, das sie damals hatte lernen müssen. Sie war überrascht, wie gut sie sich auf einmal wieder daran erinnern konnte.
Ich schrie nach tollerer Musik und stärkrem Wein
Doch
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