Der Letzte Bus Nach Woodstock
völlig erholt fühlte.
Bei seinem letzten Besuch in der Bibliothek hatte er sich Edward de Bonos › Laterales Denken ‹ ausgeliehen – mittlerweile drei Wochen über die Frist. Er hatte es gründlich durchgearbeitet und war, je weiter er las, immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß seine eigenen Fähigkeiten zu lateralem oder schöpferischem Denken entweder nicht vorhanden oder nur sehr schwach ausgeprägt waren. Zwar fand er diese Einsicht nicht besonders erfreulich, doch hatte sie ihm den Spaß an der Sache nicht verderben können. Er glaubte, verstanden zu haben, daß das direkte, logische, ve r tikale Angehen eines Problems nicht immer die beste Methode war. Manches von dem Wissenschaftsjargon war ihm unverständlich geblieben, aber die Grundprinzipien dieser Art des Denkens hatte er begriffen. ›Was kann man tun, wenn man nachts mit dem Auto unterwegs ist und beide Scheinwerfer ausfallen?‹ Das Schöne war, es spielte überhaupt keine Rolle, auf was man verfiel. Hauptsache, man hatte überhaupt eine Idee. Ob man vorschlug, die Hupe zu betätigen, den Dachgepäckträger abzumontieren oder die Motorhaube zu öffnen – eins war so gut wie das andere, denn am Nachdenken über nichtfunktionale Lösungen des Problems würde sich – so de Bono – früher oder später ein Funke entzünden und Helligkeit verbreiten. Morse hatte die Methode – wenn auch nur laienhaft – in letzter Zeit des öfteren ausprobiert und stellte jedesmal aufs neue überrascht fest, daß sie ihm tatsächlich weiterhalf. Wenn ihm ein Name partout nicht einfallen wollte, obwohl er ihm auf der Zunge lag, so grübelte er nicht mehr lange darüber nach, sondern memorierte in Gedanken irgendwelche Dinge, die er sicher wußte. Egal, was. Die Hauptstädte der amerikanischen Bundesstaaten etwa waren dazu hervorragend geeignet.
Während er entspannt dalag, beschloß er, den Mordfall Sylvia Kaye einfach einen Tag lang zu vergessen. Er wußte, er kam voran, und das sollte ihm für heute genügen. Ihm fehlte sowieso der richtige Schwung, und er hatte schließlich auch das Recht, mal auszuspannen. Morgen früh würde er dann wieder in aller Frische loslegen.
Er stand auf, zog sich an, rasierte sich und brutzelte sich aus Schinken, Tomaten und Champignons ein deftiges Frühstück. Er fühlte sich wohl. In aller Ruhe blätterte er in den Sonntagszeitungen, sah sich die Totoergebnisse an und fragte sich mehr erstaunt als ärgerlich, ob es wohl außer ihm noch jemand geschafft hatte, in der Auswahlwette 8 aus 16 alle acht Mal danebenzutippen. Er würde jetzt bis gegen zwölf ein wenig herumtrödeln, dann auf ein paar Bier in den Pub gehen und anschließend irgendwo draußen Mittag essen. Eine angenehme Aussicht. Morse hielt jedoch Untätigkeit, wenn sich – selten genug – einmal die Gelegenheit dazu bot, nie lange aus. Nach wenigen Minuten schon überlegte er, ob er lieber Wagner hören oder Kreuzworträtsel lösen sollte. Kreuzworträtsel waren seine Leidenschaft. Allerdings war es nach dem Tod des großen Ximenes, der in der Kunst, sie zu ersinnen, unübertroffener Meister gewesen war, schwierig geworden, Rätsel zu finden, die seinen Ansprüchen genügten. Die Kreuzworträtsel im Listener gefielen ihm noch am besten, und er kaufte die Rundfunkzeitschrift regelmäßig jede Woche. Wagner zu hören war andererseits auch nicht schlecht. Er besaß den kompletten › Ring ‹ . Nach einigem Nachdenken fand er, daß eines das andere nicht notwendigerweise ausschließen müsse, und während er sich den ersten Takten des reich instrumentierten Vorspiels zu › Rheingold ‹ hingab, lehnte er sich im Sessel zurück und schlug die vorletzte Seite des Listener auf. So ließ es sich leben. Die Rheintöchter tummelten sich anmutig, und Morse widmete einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit der Musik, ehe er sich schließlich dem Kreuzworträtsel zuwandte und die Klänge der Wagneroper nur noch am Rande wahrnahm. Dem Rätsel war eine Erläuterung vorangestellt:
»Jede der Definitionen für Waagerecht enthält in einem ihrer Wörter einen beabsichtigten Fehler. Die Definitionen für Senkrecht sind ohne Fehler, doch müssen die unter Senkrecht einzutragenden Lösungswörter jeweils einen falschen Buchstaben aufweisen. Die von 1 Senkrecht bis 28 Waagerecht fortlaufenden falschen Buchstaben ergeben, hintereinander gelesen, ein bekanntes Zitat, das dem Rätselfreund …«
Weiter kam er nicht. Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Er sprang auf und
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