Der Letzte Bus Nach Woodstock
ein Verdacht. Wir haben keinerlei Beweise in der Hand. Es könnte ja auch sein, daß ich mich geirrt habe, und er ist so unschuldig wie meine Tante Freda. Wenn alle Maschinen im College überprüft werden, gerate er nicht vorzeitig ins Zwielicht.«
»Halten Sie es denn wirklich für möglich, daß er unschuldig ist?« fragte Lewis.
Morse kaute nachdenklich an seinem Daumen. »Ich habe keine Ahnung, Lewis. Ich weiß es einfach nicht.«
»Mir ist heute eine Idee gekommen, Sir«, begann Lewis nach einer Weile zögernd. »Auf der Fahrt zurück vom College sah ich eine Tramperin, das heißt, ich dachte nur, sie sei eine Tramperin, in Wirklichkeit war es nämlich gar keine. Also, ich meine, es war keine Sie, sondern ein Er.«
»Das muß man Ihnen lassen, Lewis, Sie verstehen es, sich kurz und prägnant auszudrücken«, kommentierte Morse bissig.
»Aber Sie haben mich doch verstanden.«
»Ja, ich weiß, wovon Sie sprechen. Zu meiner Zeit, da sah ein Junge aus wie ein Junge, und wehe, wenn er ein etwas weicheres Gesicht hatte oder längere Locken – da erntete er Hohn und Spott. Heutzutage, da schmieren die jungen Burschen sich Farbe auf die Augen und tragen Handtaschen. Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll.«
Lewis wollte jedoch auf etwas anderes hinaus und nahm einen neuen Anlauf, um Morse klarzumachen, worum es ihm ging. Er wußte, daß er Schwierigkeiten hatte, Dinge zu erklären, und es kostete ihn Überwindung zu sprechen. »Wissen Sie, ich habe mir folgendes überlegt: Mrs. Jarman hat uns doch erzählt, sie habe zwei Mädchen an der Haltestelle stehen sehen.« – Morse begriff sofort, ließ ihn aber weiterreden. »Mit einer der beiden hat sie gesprochen, und die andere war Sylvia – das wird also stimmen. Bis hierher wäre alles klar. Als nächstes haben wir die Aussage von dem Lastwagenfahrer, diesem Baker. Er hat angegeben, er habe beobachtet, wie hinter dem Kreisverkehr zwei Mädchen in ein rotes Auto eingestiegen seien. Aber um die Zeit wurde es schon dunkel. Er glaubt, er habe zwei Mädchen gesehen. Es könnte aber doch sein, daß er sich geirrt hat. Ich habe heute morgen auch gedacht, eine Frau vor mir zu haben, und dann war es ein Mann. Und Baker sagt auch nur von Sylvia, daß er sie genau angeschaut habe. Die Person in ihrer Begleitung hat ihn nicht weiter interessiert. Wenn er da lange Haare gesehen hat … Was ich meine, Sir, ist: die Person, die mit Sylvia zusammen in das Auto eingestiegen ist, könnte auch ein Mann gewesen sein. Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, daß das Mädchen, das mit ihr zusammen an der Haltestelle gewartet hat und erst nicht trampen wollte, sich dann anders entschieden hat und ihr nachgelaufen ist. Aber vielleicht hat sie doch wieder Bedenken bekommen und lieber darauf verzichtet, nach Woodstock zu fahren. Und Sylvia hat zufällig hinter dem Kreisverkehr einen Mann getroffen, den sie kannte, und der auch per Anhalter nach Woodstock wollte, und sie haben sich zusammengetan. Sie werden sich das vermutlich auch schon selbst überlegt haben–« Morse gab nicht zu erkennen, ob das stimmte – »aber ich wollte Sie doch zur Sicherheit noch einmal darauf ansprechen. Wir sind die ganze Zeit hinter dem Mann her, der Sylvia ermordet hat, und mir ist die Idee gekommen, daß er vielleicht mit ihr zusammen in dem roten Wagen gesessen hat.«
»Und was ist mit Crowthers Aussage, Sergeant?« gab Morse zu bedenken.
»Das habe ich mir auch schon überlegt. Ich würde sie mir gerne noch mal daraufhin ansehen. Soweit ich mich erinnere, hat er von der zweiten Person nur eine ziemlich oberflächliche Beschreibung gegeben. Über Sylvia hat er jedenfalls mehr zu sagen gewußt.«
»Ja, das ist richtig«, gab Morse zu. »Ich hatte übrigens den Eindruck, daß er uns nicht alles erzählt hat, was er weiß.« Er ging zum Schrank, griff nach der Akte Kaye und entnahm ihr Crowthers Erklärung. Er überflog sie und reichte sie Lewis. Dieser hob den Kopf, als er fertig war. Nachdenklich sahen sie sich an.
Morse ließ sich das erste Blatt geben und begann laut vorzulesen: »Eine der beiden war einen Schritt auf die Fahrbahn getreten, und ich konnte, während ich heranfuhr, feststellen, daß sie sehr attraktiv war. Sie hatte lange blonde Haare und trug einen kurzen Rock mit einer weißen Bluse. Ihren Mantel hatte sie über den Arm gelegt. Das andere Mädchen war einige Meter weit vorgelaufen und stand mit dem Rücken zu mir. Ich hatte den Eindruck, daß sie nicht unfroh darüber
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