Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
zu erhitzen, um weitere Farbtöne zu erhalten. Verschiedene Harze und Pflanzensäfte, auch Tierblut und flüssig gemachtes Fett wurden zum Mischen verwendet. Der Schamane zeigte ihnen die Herstellung von Pinseln für die Strichzeichnungen. Zu diesem Zweck zerkauten sie Zweige an einem Ende und klopften sie mit Steinen flach. Am besten eigneten sich dazu weiche fasrige Weidenäste.
Bilder und Geschichten des Himmels
Morgen früh mache ich mich endgültig auf den Weg, sagte sich Lakti wieder einmal, um sein schlechtes Gewissen erneut zu beruhigen. Danach vertiefte er sich in eine Arbeit. Auf einer abgeflachten Steinplatte legte er mit farbigen Kieseln Muster aus Kreisen, Dreiecken, Quadraten, Wellenlängen. Er probierte viele Formen aus, bildete auch die Himmelskarte nach, den hellen Stern über den Hügeln, die zahlreichen kleineren Leuchtpunkte, die ihn schon umgaben. Eine Sternengruppe nannte er Wolfsohr, eine andere glich einem Pferdehuf, eine dritte gestaltete er als Mammutkopf.
Je länger er später in der Nacht den Himmel betrachtete und den geheimnisvollen nächtlichen Geräuschen lauschte, desto stärker gaukelte ihm seine Fantasie Bilder und Geschichten vor. Fragen tauchten auf, die er sich nie zuvor gestellt hatte: Wer mag dort wohnen bei den Sternen? Welche Götter bewegen Sonne und Mond und schicken Wind, Sturm und Regen? Wer bestimmt den Lauf der Welt?
Als der Morgen kam, vervollständigte er sein Bild mit hellem Sand und dunkler Erde. Aus dieser fein zerstampften Mischung bildete er die Umrisse verschiedener Tiergestalten nach. Hirsche, Rehe, Mammuts, Bären, Pferde und große Vögel entstanden zwischen den geometrischen Mustern aus den Kieseln. Aufkommender Wind verwischte die Sandlinien. Statt sich auf den Weg nach Hause zu machen, begann Lakti, seine Motive mit dem Holzkohlestab auf Felswände zu malen. Es wurde nie so, wie er es in seiner Vorstellung sah. Wie oft wischte er die Linien fort und begann aufs Neue. Er fühlte sich als Stümper, als Nichtskönner. Doch je mehr misslang, desto verbissener fing er wieder an. Zur Holzkohle hatte er Ocker gemischt und den Umriss eines Gesichts auf den Fels gemalt. Er war so versunken in seine Arbeit, dass er alles um sich herum vergaß.
„Gut gemacht, mein Freund!“
Lakti fuhr hoch und sah in Sanos lächelndes Gesicht.
„Du hast viel gelernt. Das freut mich. Doch manchen deiner Figuren fehlt noch die Lebendigkeit. Sieh her!“
Sano schwärzte seine Fingerspitze mit Holzkohle und zeichnete in einem Strich den Körper eines Büffels. Lakti staunte: Es sah aus, als befinde sich der Büffel in vollem Lauf.
„So sieht eine Nachricht für Jäger aus“, erklärte Sano. „Sie bedeutet, eine Herde Büffel ist in Richtung Sonnenaufgang gezogen. Auf diese Weise wurden seit langer Zeit Botschaften hinterlassen. Es gab viele Zeichen, die andere in der Gruppe erkennen sollten, Nachrichten über die Herden, über Feinde, die sich näherten, über neue Wege und Lagerstätten. Im Freien war das natürlich schwierig, die Bilder bröckelten ab, wurden vom Regen abgewaschen. Außerdem konnte jeder sie finden, auch Feinde, die uns verfolgten, unsere Frauen raubten und unsere Lager zerstörten. Unsere Vorfahren begannen daher, ihre Botschaften in den Höhlen zu verstecken. Die Maler zogen sich immer tiefer in den Berg zurück – auch um den Göttern zu huldigen.“
„Ich wünschte mir so sehr, dass du mich einmal mit in den Berg nimmst“, sagte Lakti mit leuchtenden Augen. Er hatte bereits wieder ganz vergessen, dass er heim zu seiner Sippe gehen wollte.
„Geduld, mein Schüler. Ich verspreche dir, dass du bald an den Ort kommst, wo die Geister wohnen.“
„Wann wird das sein?“
„In zwei Tagen werden wir dort oben in die Höhle gehen.“ Sano deutete bergauf, wo der Eingang zu einer Schlucht zu sehen war. „Dann zeigt sich der volle Mond. Es wird eine gute Zeit für unser Werk sein. Aber zuvor feiern wir das Fest des Mammuts. Hat man dir das nicht gesagt?“
„Ich weiß nichts davon.“
Lakti ärgerte sich. Die anderen beiden Schüler hatten es nicht für nötig gefunden, ihm davon zu erzählen. Wenn er ehrlich war, musste er allerdings zugeben, dass er selber es war, der sich von der Gruppe absonderte. Hatte er nicht den ganzen Tag und etliche Nachtstunden damit zugebracht, Sterne zu beobachten, Bilder zu legen, Farben zu mischen und Umrisse zu zeichnen, als sei es ihm durch einen geheimen Befehl mitgegeben worden? Vielleicht hatte ihm ja einer der
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