Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
überprüfen. Das gilt umso mehr, weil ich weiß, dass ich nichts weiß, meine lieben Schüler.“
Ein Gast aus ferner Zukunft
Die Proteste während des Disputs mit Sokrates wurden leiser. Vielleicht lag es daran, dass dieser Denker allen mit großer Sympathie begegnete, die um ihn versammelt waren.
Oder lag es daran, dass plötzlich eine merkwürdige Erscheinung aufgetaucht war?
Manche der hier versammelten Schüler und Lehrer rieben sich hinterher verwundert die Augen und fragten sich:
„Haben wir geträumt? Welcher Gott narrte für einen kurzen Augenblick unsere Sinne?“
Andere schworen Stein und Bein, es sei ein kleiner Mann auf dem Platz erschienen. Er war kaum größer als ein Knabe von 15 Jahren. Er fiel allen sofort auf, denn er passte überhaupt nicht in diese Umgebung. Seine Kleidung bestand aus einem schwarzen seidenen Gehrock, aus grauen Kniebundhosen, Strümpfen von gleicher Farbe und silbernen Schuhen. Er trug eine schwarze Halsbinde und eine hell gepuderte Perücke. So etwas hatten die Athener noch nie gesehen. Ein Schauspieler, der sich bei den Proben hierher verirrt hatte? Welche Rolle benötigte so eine lachhafte Kostümierung.
Der kleine Mann blickte auch etwas verblüfft um sich. „Lampe?“, rief er. „Wie spät ist es?“
Niemand erschien, keiner antwortete. Nur Männer in langen weißen Gewändern umstanden ihn. Er bemerkte es erst jetzt und zog die Augenbrauen hoch. Einige lachten, andere traten gleich mehrere Schritte zurück. Für sie war klar: Das war eine Gotteserscheinung oder zumindest die eines Halbgottes, eine von Zeus geschickte Prüfung.
Als der kleine Mann die Hand hob und sprach, wurde alles ganz still auf dem Marktplatz.
„Auch wenn ich nicht weiß, in welchem Traum ich mich befinde, und mein ungehöriger Diener Lampe wohl vergaß, mich pünktlich um fünf zu wecken“, rief er ungehalten aus, „so will ich als kleinen Beitrag in dieser lange vor meiner Lebenszeit stattfindenden Diskussion anmerken, dass nach meinem Verständnis, nach dem Verständnis des aufgeklärten Menschen, die sinnliche Wahrnehmung immer durch das Denken beeinflusst ist. Was ich sehe, höre, fühle, schmecke – ist es auch ohne mich da oder schaffe ich es erst? Gibt es die Welt außerhalb unserer Wahrnehmung? Das ist die grundlegende Frage, ihr Männer meines Traumes, der offensichtlich heute Nacht im alten Griechenland angesiedelt ist. Wenn wir über diese Dinge etwas wissen wollen, müssen alle Menschen an der Diskussion, was richtig ist, teilhaben können. Wir müssen etwas tun, nämlich eine aufgeklärte Gesellschaft von freien und gleichberechtigten Menschen schaffen. Dazu gehört unbedingt, dass wir den Mut haben müssen, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen. So wird das Thema meiner heutigen Vorlesung lauten. Sie beginnt pünktlich um neun Uhr im Hörsaal meines Hauses. Sie sind als Gäste willkommen, meine Herren.“
In diesem Augenblick sauste ein Stock auf den Rücken des Fremden. Ein Schlag, noch ein Schlag.
Das Bild verflüchtigte sich, wurde durchsichtig.
„Lampe!“, hörte man ihn schreien.
„Fünf Uhr, Herr Professor Kant!* Aufstehen!“, rief eine kräftige soldatische Stimme im Befehlston.
Etwas fiel polternd um. Geschimpfe, das allmählich schwächer wurde. Schließlich hörte man nur noch den Befehl: „Lampe, meinen Tee! Und die Tabakspfeife!“
//HABE MUT, DICH DEINES VERSTANDES ZU BEDIENEN //
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Diesen Satz hätten so auch die griechischen Philosophen formulieren können. In Wahrheit war er rund 2 000 Jahre später einer der Kernsätze der Aufklärung , einer europäischen geistigen Bewegung im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. Sie erfasste und erschütterte das gesamte geistige Leben. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – dieser Satz stammte vom Königsberger Philosophen Immanuel Kant, einem der Hauptvertreter der Aufklärung. Dieser Aufruf zum selbstständigen Denken bedeutete den Anfang vom Ende der absoluten Monarchien in Europa, in der eine einzelne Person, der König oder die Königin, die Staatsgeschicke bestimmte. Auch die beherrschende und führende Rolle der Religion wurde gebrochen. Zum Grundgedanken der Aufklärung gehörten die bürgerlichen Freiheiten wie Gleichheit, Verpflichtung zur Toleranz, der Glaube an den Fortschritt. Kein Mensch sei von Geburt an bereits festgelegt auf ein Leben in dieser oder jener Gesellschaftsschicht. Die Fähigkeiten des Verstandes können durch
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