Der letzte Coyote
Ausdruck, dann nahm sie wortlos den Rahmen aus seinen Händen und stellte ihn auf die Kommode zurück. Sie zog Harry wieder eng an sich und umarmte ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Er konnte in dem Spiegel über der Kommode sehen, wie er sie hielt. Als sie ihn wieder losließ und ihn anschaute, sah er, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Ihre Unterlippe zitterte leicht.
»Setzen wir uns«, sagte er.
Sie nahm zwei Papiertaschentücher aus einer Schachtel auf der Kommode, und er führte sie zu ihrem Sessel im Wohnzimmer zurück.
»Soll ich dir etwas Wasser holen?«
»Nein, es geht schon. Ich werde gleich aufhören zu weinen. Es tut mir leid.«
Sie trocknete ihre Tränen mit den Taschentüchern. Er setzte sich wieder auf die Couch.
»Wir haben immer gesagt, wir sind die zwei Musketiere. Einer für beide, beide für einen. Es war dumm. Aber wir waren so jung und so vertraut miteinander.«
»Ich werde mit den Ermittlungen wieder ganz von vorne anfangen, Katherine. Ich habe die alte Akte. Sie …«
Sie schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf.
»Es gab keine Ermittlungen. Es war ein Witz.«
»Das sehe ich auch so, allerdings verstehe ich nicht den Grund.«
»Hör zu, Harry. Du weißt, was deine Mutter war.« Er nickte, und sie fuhr fort. »Sie war ein Party-Girl. Ich auch. Du weißt, das war damals die höfliche Bezeichnung. Und den Cops war es egal, daß eine von uns starb. Sie kümmerten sich nicht weiter darum. Ich weiß, daß du jetzt Polizist bist, aber damals lagen die Dinge so. Sie war ihnen egal.«
»Ich verstehe. Heute ist es wahrscheinlich nicht viel anders, ob du’s glaubst oder nicht. Aber das kann nicht die ganze Erklärung sein.«
»Harry, ich weiß nicht, wieviel du über deine Mutter wissen willst.«
Er sah sie an.
»Die Vergangenheit hat auch mich stark gemacht. Ich kann es ertragen.«
»Das glaube ich dir … Ich erinnere mich an dieses Heim, in das sie dich steckten. McEvoy oder so ähnlich …«
»McClaren.«
»Richtig, McClaren. Was für ein deprimierender Ort. Wenn deine Mutter von ihren Besuchen zurückkam, saß sie nur da und weinte sich die Augen aus.«
»Bleiben wir beim Thema, Katherine. Was sollte ich von ihr wissen?«
Sie nickte, zögerte jedoch einen Moment, bevor sie weitersprach.
»Marjorie kannte einige Polizisten. Verstehst du?«
Er nickte.
»Wir beide kannten Polizisten. Man mußte sich arrangieren, wenn man keine Probleme wollte. So haben wir’s wenigstens gesehen. Und wenn jemand bei solchen Verhältnissen eines Tages tot aufgefunden wird, dann ist es für die Cops am sichersten, wenn alles unter den Teppich gekehrt wird. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Sie wollten einfach nicht, daß jemand in Verlegenheit gebracht wird.«
»Soll das heißen, du glaubst, es war ein Cop?«
»Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich habe keine Ahnung, wer es getan hat, Harry. Es tut mir leid. Wenn ich es nur wüßte! Aber ich glaube, die beiden Detectives wußten, wohin die Untersuchung führen könnte. Also ermittelten sie erst gar nicht in diese Richtung, weil sie als Polizisten nicht ins Fettnäpfchen treten wollten. In der Hinsicht waren sie nicht dumm. Wie ich schon sagte, sie war ein Party-Girl, und sie interessierten sich nicht für sie. Niemand interessierte sich für den Mord. Sie wurde umgebracht, und damit war der Fall erledigt.«
Bosch sah sich im Zimmer um, unsicher, was er als nächstes fragen sollte.
»Weißt du, welche Polizisten sie kannte?«
»Es ist lange her.«
»Du kanntest auch einige von ihnen, nicht?«
»Ja. Ich mußte. Die Verhältnisse waren so. Du hast deine Beziehungen spielen lassen, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Jeder war käuflich. Damals wenigstens. Die Form der Bezahlung wechselte. Manche Leute wollten Geld, manche anderes.«
»Im Mor… in der Akte stand, daß nie ein Haftbefehl gegen dich erlassen wurde.«
»Ja, ich hatte Glück. Ich wurde ein paarmal festgenommen, aber man hat mich nie verhaftet. Sie ließen mich immer wieder laufen, nachdem ich irgend jemand anrief. Ich habe eine weiße Weste, weil ich viele Polizisten kannte, Schatz. Verstehst du?«
»Stört es dich, wenn ich rauche, Katherine?«
»Nein, wenn ich es auch darf.«
Sie nahmen sich Zigaretten, und Bosch stand auf, um ihre anzustecken.
»Du kannst den Aschenbecher auf dem Beistelltisch benutzen. Paß auf, daß keine Asche auf den Teppich fällt.«
Sie deutete auf eine kleine Glasschale auf dem Tisch am anderen Ende des Sofas. Bosch
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