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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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die rausfahren müssen. Sie können nicht zu Hause bleiben und in Deckung gehen, bis alles vorbei ist. – Sprechen wir jetzt über Sie als Individuum. Sie waren bei all diesen Ereignissen an der Front. Außerdem werden Sie tagtäglich von Ihrem Job gefordert. Mordermittlungen. Eine der aufreibendsten Tätigkeiten bei der Polizei. – Wieviel Morde haben Sie in den letzten drei Jahren untersucht?«
    »Hören Sie zu, ich suche nicht nach einer Entschuldigung. Was ich getan habe, habe ich getan, weil ich es tun wollte. Es hatte nichts mit Aufständen oder …«
    »Wie viele Leichen haben Sie gesehen? Bitte, beantworten Sie mir nur diese Frage. Wie viele Leichen? Wie viele Witwen mußten Sie benachrichtigen? Wie vielen Müttern mußten Sie sagen, daß ihre Kinder tot sind?«
    Er hob seine Hände auf und rieb sich das Gesicht. Sein einziger Gedanke war, daß er sich vor ihr verstecken wollte.
    »Viele«, flüsterte er endlich. »Zu viele …«
    Er atmete tief aus.
    »Ich möchte Ihnen für die Antwort danken. Ich versuche nicht, Sie in die Ecke zu treiben. Der Grund für meine Frage und für meinen Vortrag über die soziale, kulturelle und auch geologische Zersplitterung dieser Stadt ist, daß ich glaube, daß Sie mehr als die meisten Menschen durchgemacht haben. Und das schließt noch nicht einmal Ihr emotionales Gepäck von Vietnam oder Ihrer Zweierbeziehung ein. Was auch immer die Gründe sein mögen, die Streßsymptome sind deutlich zu erkennen. Ihre Überempfindlichkeit, Ihre Unfähigkeit, Frustration zu verarbeiten und der Angriff auf Ihren Vorgesetzten.«
    Sie machte eine Pause, aber Bosch sagte nichts. Er hatte das Gefühl, daß sie noch nicht fertig war. Er hatte recht.
    »Außerdem gibt es andere Anzeichen«, fuhr sie fort. »Die Weigerung, Ihr vom Erdbeben beschädigtes Haus zu verlassen, kann als Verdrängung der Sie umgebenden Wirklichkeit interpretiert werden. Physische Symptome sind ebenfalls evident. Haben Sie in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen? – Ich glaube, ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, ob Sie zuviel trinken. Und Ihre Hand. Sie haben sich nicht mit einem Hammer verletzt. Sie sind mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen. Das ist eine Verbrennung. Ich würde mein Diplom dafür wetten.«
    Sie öffnete eine Schublade und holte zwei Plastikbecher und eine Wasserflasche heraus. Nachdem sie die Becher gefüllt hatte, schob sie einen zu ihm hinüber. Eine Versöhnungsgeste. Er beobachtete sie schweigend. Er fühlte sich erschöpft und kaputt. Gleichzeitig bewunderte er sie, weil sie ihn so geschickt auseinandernahm. Nach einem Schluck fuhr sie fort.
    »Diese Symptome weisen alle auf posttraumatischen Streß hin. Dabei gibt es allerdings ein Problem. Das Wort post bedeutet, daß die ursächliche Streßepisode vorbei ist. Das ist hier nicht der Fall. Nicht in L. A. Nicht in Ihrem Job, Harry. Sie stehen ständig unter Druck. Sie brauchen Zeit zum Atem holen. Das ist der Zweck Ihrer Suspendierung. Atemholen, Kräfte sammeln, Erholung. Widersetzen Sie sich also nicht. Ergreifen Sie die Chance. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Nutzen Sie die Chance, um sich zu retten.«
    Bosch atmete tief aus und hielt seine Hand hoch.
    »Sie können Ihr Diplom behalten.«
    »Danke.«
    Sie erholten sich einen Moment, bis sie in einem besänftigenden Ton fortfuhr.
    »Sie sollten auch wissen, daß Sie nicht der einzige sind. Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. In den letzten drei Jahren sind die Fälle von Streßüberlastung bei Polizisten gestiegen. Die Abteilung für Verhaltenstherapie hat gerade beim Stadtrat fünf weitere Planstellen beantragt. Unsere Auslastung stieg von achtzehnhundert Sitzungen 1990 auf mehr als das Doppelte im letzten Jahr. Wir haben sogar einen Namen für dieses Phänomen. Die blaue Angst. Und die haben Sie, Harry.«
    Bosch lächelte und schüttelte den Kopf. Er klammerte sich immer noch an den Glauben, daß mit ihm alles in Ordnung sei.
    »Die blaue Angst. Hört sich wie ein Wambaugh-Roman an, nicht wahr?«
    Sie antwortete nicht.
    »Das heißt also, daß ich meinen Job nicht wiederbekomme.«
    »Nein, das habe ich überhaupt nicht gesagt. Ich sage nur, daß es viel Arbeit erfordern wird.«
    »Ich fühle mich, als wäre ich vom Nobelpreisträger für Psychologie in Stücke zerlegt worden. Könnte ich Sie anrufen, wenn ich mal aus einem sturen Typen, der nicht mit mir reden will, ein Geständnis herausquetschen muß?«
    »Glauben Sie mir, allein das zu sagen, ist ein

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