Der letzte Coyote
Angst und Schrecken. Sie gab mir einmal ein Buch mit seinen Gemälden.«
Sie schwieg wieder eine Weile, während sie darüber nachdachte.
»Diese Geschichten, Harry, sind alle auf ihre Weise herzzerreißend«, sagte sie endlich. »Sie zeigen mir den Jungen, aus dem ein Mann wurde, und die große Lücke, die Ihre Mutter hinterließ. Wissen Sie, Sie könnten ihr die Schuld an vielem geben, und niemand würde Sie deswegen kritisieren.«
Er sah sie bewußt an und formulierte eine Antwort.
»Ich gebe ihr für nichts die Schuld. Schuldig ist der Mann, der sie mir genommen hat. Verstehen Sie, das sind Geschichten über mich, nicht über sie. Sie haben keine Ahnung, was für ein Mensch sie war. Sie kannten sie nicht wie ich. Ich weiß nur, daß sie mich da rausholen wollte. Sie hörte nie auf, mir das zu sagen, es zu versuchen. Am Ende lief die Zeit für sie ab.«
Sie nickte, akzeptierte seine Antwort. Ein paar Augenblicke vergingen.
»Gab es einen Zeitpunkt, an dem sie Ihnen gesagt hat, was sie tat … beruflich?«
»Eigentlich nicht.«
»Wie haben Sie es erfahren?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube, ich wußte es nicht so genau, bis sie nicht mehr da war und ich älter war. Man trennte uns, als ich zehn war, und ich wußte nicht warum.«
»Hatte sie Männerbesuch, während Sie bei ihr waren?«
»Nein, das ist nie vorgekommen.«
»Aber Sie müssen irgendeine Vorstellung über das Leben gehabt haben, das sie führte, das sie beide führten.«
»Sie erzählte mir, daß sie Kellnerin sei und abends arbeite. Sie ließ mich bei einer Frau, die ein Zimmer in dem Apartmentgebäude hatte. Mrs. DeTorre. Sie beaufsichtigte vier oder fünf Kinder, deren Mütter alle der gleichen Tätigkeit nachgingen. Keiner von uns wußte etwas.«
Er hörte auf zu sprechen, aber sie sagte nichts, und er begriff, daß er fortfahren sollte.
»Eines Abends habe ich mich davongemacht, als die alte Frau einschlief, und ging zu dem Restaurant, wo sie angeblich arbeitete. Sie war nicht da. Ich fragte, aber niemand kannte sie.«
»Fragten Sie Ihre Mutter?«
»Nein … Am nächsten Abend folgte ich ihr. Sie hatte ihre Kellnerinnensachen an und ging nach oben zu ihrer besten Freundin, Meredith Roman. Als sie herauskamen, trugen sie beide Kleider, Make-up und so weiter. Sie nahmen dann ein Taxi, und ich konnte ihnen nicht folgen.«
»Aber Sie wußten.«
»Ich wußte etwas. Allerdings war ich neun oder so. Was konnte ich groß wissen?«
»Waren Sie wütend auf sie, weil sie Ihnen etwas vormachte, indem sie sich jeden Abend als Kellnerin verkleidete?«
»Nein. Im Gegenteil. Ich hielt es … ich weiß nicht … irgendwie für nobel, daß sie das für mich tat, um mich zu beschützen.«
Hinojos nickte, sie verstand sein Argument.
»Schließen Sie Ihre Augen.«
»Ich soll meine Augen schließen?«
»Ja, ich möchte, daß Sie Ihre Augen schließen und sich in die Zeit zurückversetzen, als Sie ein Junge waren.«
»Was soll das?«
»Tun Sie’s mir zuliebe. Bitte.«
Bosch schüttelte irritiert den Kopf, tat jedoch wie geheißen. Er kam sich dumm vor.
»Okay.«
»Okay, ich möchte, daß Sie mir etwas von Ihrer Mutter erzählen. Und zwar das Bild oder die Episode, an die Sie sich am besten erinnern können. Das möchte ich von Ihnen hören.«
Er dachte angestrengt nach. Bilder tanzten ihm durch den Kopf und verschwanden wieder. Schließlich tauchte eins in seiner Erinnerung auf und blieb.
»Okay.«
»Okay, erzählen Sie.«
»Es war im McClaren. Sie war zu Besuch da, und wir standen am Zaun des Spielfeldes.«
»Warum erinnern Sie sich an diese Episode?«
»Ich weiß nicht. Weil sie da war. Dann fühlte ich mich immer wohl. Auch wenn wir am Ende weinten. Sie hätten das Heim am Besuchstag sehen sollen. Alle weinten … Und ich erinnere mich auch daran, weil es kurz vor ihrem Tod war. Vielleicht ein paar Monate vorher.«
»Erinnern Sie sich, worüber Sie sprachen?«
»Über vieles … Baseball. Sie war ein Dodgers-Fan. Einer der älteren Jungen hatte mir die neuen Turnschuhe weggenommen, die ich von ihr zum Geburtstag bekommen hatte. Sie merkte, daß ich sie nicht trug und wurde deswegen wütend.«
»Warum hat Ihnen der ältere Junge die Turnschuhe weggenommen?«
»Sie fragte das gleiche.«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
»Ich sagte ihr, daß er es tat, weil er es konnte. Ganz egal, was die offizielle Bezeichnung war, im Grunde war es ein Gefängnis für Kinder, und es gab die gleichen Strukturen: die herrschenden
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