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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Cliquen, die Schwächlinge und so weiter.«
    »Wozu gehörten Sie?«
    »Ich weiß nicht. Ich war ein Einzelgänger. Aber wenn ein älterer Junge meine Schuhe nahm, dann wehrte ich mich nicht. So überlebte man.«
    »War Ihre Mutter deswegen unglücklich?«
    »Ja, aber sie kannte nicht das ungeschriebene Gesetz im Heim. Sie wollte sich beschweren oder so. Sie wußte nicht, daß sie es nur noch schlimmer für mich machen würde. Dann begriff sie und begann zu weinen.«
    Bosch schwieg, ganz in seinen Erinnerungen versunken. Er spürte die feuchte Luft auf der Haut und roch die Orangenblüten von den nahen Obstplantagen.
    Hinojos räusperte sich, bevor sie ihn aus seinen Erinnerungen riß.
    »Was taten Sie, als sie zu weinen begann?«
    »Wahrscheinlich begann ich auch zu weinen. Das tat ich meistens. Ich wollte nicht, daß sie sich schlecht fühlte, aber es tröstete mich, daß sie wußte, was im Heim passierte. Nur Mütter schaffen das, daß man sich wohl fühlt, wenn man traurig ist …«
    Bosch hatte seine Augen immer noch geschlossen, sah nur das Bild seiner Erinnerung.
    »Was sagte sie Ihnen?«
    »Sie … sie sagte nur, daß sie mich rausholen würde. Daß ihr Anwalt Berufung gegen das Vormundschaftsurteil einlegen würde. Sie sagte, es gebe noch andere Sachen, die sie tun könnte. Sie unternahm alles mögliche, mich herauszuholen.«
    »Der Rechtsanwalt war Ihr Vater?«
    »Ja, aber das wußte ich nicht. Was ich sagen will … Das Gericht irrte sich, und darüber komme ich nicht hinweg. Sie war so gut zu mir, und sie haben es nicht eingesehen. Egal … Ich erinnere mich, daß sie mir versprach, alles Nötige zu tun, um mich herauszuholen.«
    »Aber sie tat es nicht.«
    »Nein. Wie ich schon sagte, ihre Zeit lief ab.«
    »Das tut mir leid.«
    Bosch öffnete die Augen und sah sie an.
    »Mir auch.«

18
    B osch hatte auf einem bewachten Parkplatz an der Hill Street geparkt und mußte dafür zwölf Dollar bezahlen. Er verließ Downtown auf der 101 in Richtung Norden und fuhr auf die Hügelkette zu. Unterwegs sah er ab und zu auf die blaue Schachtel, die auf dem Beifahrersitz lag, öffnete sie jedoch nicht. Früher oder später würde er es tun müssen, aber er wollte warten, bis er zu Hause war.
    Er stellte das Radio an und hörte, wie der DJ einen Song von Abbey Lincoln ankündigte. Bosch kannte das Stück nicht, aber der Text und die rauchige Stimme der Frau gefielen ihm sofort.
     
    Bird alone, flying high
    Flying through a clouded sky
    Sending mournful, soulful sounds
    Soaring over troubled grounds
     
    Nachdem er wie üblich den Wagen einen halben Block von seinem Haus entfernt geparkt hatte, trug Bosch die Schachtel hinein und legte sie auf den Eßtisch. Er steckte sich eine Zigarette an und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Manchmal schaute er zur Schachtel. Er wußte, was sie enthielt. Die Inventarliste war in der Mordakte abgeheftet. Aber er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß er im Begriff war, die Privatsphäre seiner Mutter zu verletzen und ein unbekanntes Tabu zu brechen.
    Schließlich holte er seine Schlüssel heraus. Am Bund war ein kleines Taschenmesser, mit dem er jetzt das rote Klebeband aufschlitzte. Er legte das Messer hin und hob ohne weiter nachzudenken den Deckel hoch.
    Die Kleider des Opfers und ihr sonstiges Eigentum waren in Plastiktüten verpackt, die Bosch einzeln herausnahm und auf den Tisch legte. Das Plastikmaterial hatte sich gelb verfärbt, aber Bosch konnte hindurchsehen. Er hielt jedes Beweisstück hoch und studierte es in seiner sterilen Hülle.
    Er schlug die Akte bei der Inventarliste auf und versicherte sich, daß nichts fehlte. Er hielt den kleinen Beutel mit den goldenen Ohrringen gegen das Licht. Sie sahen aus wie gefrorene Tränen. Er legte den Beutel hin. Unten in der Schachtel lag die Bluse, sauber aufgefaltet in Plastik. Der Blutfleck befand sich an der beschriebenen Stelle. Links auf der Brust, ungefähr fünf Zentimeter neben dem mittleren Knopf.
    Bosch strich mit seinem Finger über den Flecken unter der Plastikhülle. Dann fiel ihm etwas auf. Es gab sonst kein Blut.
    Schon beim Lesen der Akte hatte das irgendwie nicht ins Bild gepaßt, aber er hatte den Gedanken nicht weiter verfolgt. Jetzt war es offensichtlich. Das Blut. Kein Blut auf der Unterwäsche, dem Rock, den Strümpfen oder den Schuhen. Nur auf der Bluse.
    Bosch wußte auch, daß die Leiche laut Autopsiebericht keine Fleischwunde aufgewiesen hatte. Woher kam dann das Blut? Er hätte sich die Fotos vom

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