Der letzte Engel (German Edition)
Leopold hinterher und hält deinem Blick stand. »Und jetzt hör auf, mich so anzustarren.«
Du legst den schmalen Ordner auf den Tisch und schiebst ihn zu ihm rüber. Alles wiederholt sich. Damals schob dir Leopold das Märchen zu, das hier ist kein Märchen mehr, das sind harte Fakten. Leopold seufzt, legt seine Zigarre zur Seite und öffnet den Ordner. Er liest und schaut dann auf.
»Wer ist das?«
»Er hat überlebt«, antwortest du und meinst damit nicht nur Erik Hakonson, du meinst insbesondere den Jungen, den der Hüter vor vierzehn Jahren auf seinem Rücken durch den Schnee getragen hat.
»Wie … Ich meine, wie ist das möglich?«, sagt Leopold. »Es waren doch verdammte minus 25 Grad!«
Er schaut auf die Fakten in seiner Hand.
»Und was ist das für eine Schusswunde?«
»Ich habe ihn an der Schulter getroffen.«
»Du hast was ?!«
Ihr seht euch an, du antwortest nicht, Leopold spricht weiter.
»Du schießt, um zu töten, habe ich dir das nicht beigebracht?«
Du schlägst ein Bein übers andere und fühlst dich wie neunzehn.
Es wird Zeit für Klarheit.
»Du warst es, der mich damals beruhigt hat«, erinnerst du Leopold. »Du hast gesagt, dass sich entweder der Sturm oder die Wölfe um die beiden kümmern würden. Du warst es, der sich getäuscht hat, nicht ich.«
Leopold steht wortlos auf und geht zur Bar. Er kommt mit zwei Gläsern und einer Flasche zurück. Er fragt nicht, gießt ein und reicht dir ein Glas. Du riechst am Whiskey und behältst das Glas in der Hand, ohne zu trinken.
»Wie alt ist der Junge jetzt?«, fragt Leopold.
»Sechzehn.«
»Scheiße.«
Er trinkt, gießt sich nach, trinkt.
»Wir müssen nach Berlin«, sagst du nach einer angemessenen Pause.
»Ich weiß.«
»Und wir müssen uns um das Archiv kümmern.«
»Ich weiß, Lazar!«
Leopold verschließt die Flasche. Er sieht auf seine Zigarre, die erloschen ist. Er nimmt sie aus dem Aschenbecher und zündet sie wieder an. Ein Zug, noch ein zweiter. Die Zigarrenspitze glüht. Leopold hat sich entschieden.
»Du fliegst nach Berlin. Ich kümmere mich um das Archiv.«
Du nickst, nimmst den Ordner und verlässt die Hotelbar. Es ist das letzte Mal, dass du Leopold lebend siehst. Vier Stunden später machst du dich mit Cedric und Paulsen auf den Weg zum Flughafen. Es ist deine Zeit für letzte Male. Es ist auch das letzte Mal, dass du einem Mädchen die Hand reichen wirst. Schau dich an, wie verwirrt du da vor dem Café auf die Straße trittst. Die toten Mädchen sind um dich herum, ihre Hände, ihre gebleckten Zähne, ihre Schreie. Du willst sie abschütteln, aber sie gehören zu dir. Wir gehören zu dir, singen sie, und du hörst sie, und du siehst sie, und was noch viel schlimmer ist, du spürst sie, wie sie von dir zehren, wie sie dir Kraft nehmen, denn sie wollen dein Leben und eher werden sie keine Ruhe geben. Fang uns doch! Fang uns doch!, rufen sie, und du greifst nach ihnen, und du schlägst nach ihnen und wünschst dir eine Axt und willst ihnen wehtun und hörst das schrille Quietschen von Reifen und das Kreischen von Stimmen, aber es sind nicht die Mädchen, es sind zwei Jungen in dem Auto und eine Mutter hinter dem Steuer, und du stehst vor ihnen auf der Straße und schlägst nach den sieben toten Mädchen, die nicht wirklich da sind. Dann trifft dich der Wagen, und deine letzten Gedanken sind: Fünf Sekunden haben mich beinahe vernichtet. Wie konnte mir das passieren? Scheiße, wie konnte mir das nur passieren?
Die Antwort ist einfach.
Du wolltest sehen, wie es Mona bis hierher geschafft hat.
Und sie hat es dir gezeigt.
DAS MÄDCHEN
M ona hat ihren Schwestern ein Versprechen gegeben.
Befrei uns, haben die toten Mädchen gesagt.
Sie sagten auch: Wir führen dich und du bringst uns zu ihm, ja?
Auch wenn Mona erst zehn Jahre alt ist, sind ihr Versprechen wichtig. Deswegen saß sie Lazar an diesem Samstagabend im Café gegenüber, deswegen griff sie nach seiner Hand und nahm ihn mit in ihre Erinnerung. Nicht weil sie ein nettes Mädchen ist, sondern weil ihr Versprechen wichtig sind.
In den ersten vier Sekunden bekam Lazar zu sehen, wie seine Männer in der Culmer Street 45 zu Tode kamen, er sah auch, wie Mona Abschied von Ennis nahm und ihre Leiche mit einer Jacke zudeckte. Danach stand sie verloren neben der toten Gouvernante und konnte sich nicht von ihr trennen. Esko und der Archivar warteten im Flur, und für einen Moment überlegte Mona, wie es wäre, in die Erinnerung zurückzugehen und Ennis zu holen
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