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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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– Ennis und ihre Schwestern und die anderen Gouvernanten.
    Ich könnte sie alle in die Gegenwart bringen, ich könn –
    »Nicht.«
    Mona sah auf und erschrak. Einer der Söldner stand im Türrahmen. Der Schreckmoment verging, und Mona erkannte Esko, der seine zerfetzte Kleidung abgelegt und sich die Uniform von Desser angezogen hatte.
    »Es funktioniert nur für eine bestimmte Zeit«, sagte er. »Und ich denke, das solltest du deinen Freunden und ihrer Erinnerung nicht antun. Sobald du einschläfst, kehren sie alle wieder an ihren Platz zurück.«
    »Du auch?«
    »Auch ich.«
    »Aber wenn ich …«
    »Wenn du erneut versuchst, sie zu holen«, unterbricht sie Esko, »funktioniert es nicht mehr. Auch die Erinnerung hat Grenzen. Und nach dem ersten Mal beginnt sie zu verblassen.«
    Der Archivar tauchte neben Esko auf und sagte, sie sollten besser verschwinden, bevor noch mehr Söldner hochkommen.
    Leopold saß neben der Wohnungstür in einer Blutpfütze, Rücken gegen die Wand gelehnt, Augen geschlossen. Esko und der Archivar gingen an ihm vorbei. Nur Mona zögerte. Sie sah, dass Leopold noch atmete, und hockte sich neben ihn. Sie berührte seinen Arm und lehnte sich im selben Moment in einem Ledersessel zurück.
    Es war vor fünfzehn Stunden im Barbaros Hotel. Leopold schaute Lazar hinterher, der mit einem Ordner unter dem Arm die Hotelbar verließ. Mona schmeckte etwas Bitteres in ihrem Mund, dann atmete Leopold aus und der Zigarrenrauch stieg der Decke entgegen. Leopold war erschöpft. Er hatte eben erfahren, dass ein Hüter und einer der Jungen den Angriff vor vierzehn Jahren überlebt hatten. Erik und Markus Hakonson. Motte , dachte Mona, das ist Motte . Leopold hatte sich entschieden, in Edinburgh zu bleiben, während Lazar nach Berlin reisen und den Jungen und den Hüter töten sollte. Leopold wollte dem Archiv bis zum Abend Zeit geben, dann würde er mit Desser und Cipoto reingehen.
    »Kann ich Ihnen noch was bringen?«
    Die Kellnerin war rechts von Leopold aufgetaucht, er hatte sie nicht kommen hören und war ein wenig zusammengeschreckt. Seine Nerven lagen blank. Er bestellte einen Cognac, legte die Zigarre in den Aschenbecher und schloss die Augen für einen Moment. Mona spürte die Last der letzten Tage, die wie ein dunkler, nasser Mantel an ihm hing. Sie hatte Schwierigkeiten, sich in seiner Erinnerung zu orientieren. Leopolds Gedanken waren chaotisch, und die Verbindung brach andauernd zusammen, weil er im Sterben lag. Es war ein wenig, als würde alles gleichzeitig in seinem Kopf geschehen. Als Mona Leopolds Arm wieder losließ, schmerzte ihr Kopf. Es waren zu viele Informationen und sie hatte sie wie ein Schwamm aufgesogen. Esko und der Archivar hatten in der Zwischenzeit den ersten Treppenabsatz erreicht und wussten nicht, dass Mona stehen geblieben war. Sie folgte ihnen die Treppe hinunter. Sie hatte bekommen, was sie wollte.
    Nach fünf Minuten erreichten sie die Wohnung des Archivars über den Tunnel, der die Häuser miteinander verbindet. Während sich Jean-Luc um Eskos Wunden kümmerte, ging Mona in das Badezimmer. Eigentlich wollte sie sich nur den Mund ausspülen, um den Zigarrengeschmack loszuwerden, stattdessen setzte sie sich auf den Wannenrand, und da saß sie, und Leopolds Erinnerung hing wie Nebel in ihren Gedanken fest. Sie wusste jetzt, dass sie sich von nun an vorsichtiger durch fremde Erinnerungen bewegen musste.
    Zu viel ist zu viel, dachte sie und schloss die Augen.
    Es half.
    Auch wenn es niemand sah, befand sich Mona schon seit einer Weile im Schockzustand. Der Tod ihrer Schwestern und der Gouvernanten, die Zerstörung des Hauses und jetzt Ennis, die vor ihren Augen erschossen wurde: Monas Gefühle waren eingefroren. Während sich alles um sie herum in Bewegung befand, kam ihr nichts nahe. Wäre man in diesem Moment nahe an Mona herangetreten, hätte man sehen können, dass sie ganz leicht zitterte und bebte. Die Emotionen wollten raus, Mona ließ es nicht zu. Sie kämpfte gegen die Wut und Trauer an, und es störte sie dabei, dass sie nicht alleine in ihren Gedanken war – Theia wartete im Hintergrund, Theia und ihre Erinnerung.
    Wieso ist ihre Erinnerung auch meine Erinnerung? Und wieso war ich Theia, als ich Jasmins Erinnerung berührt habe? Wieso nicht ihre Schwester Lisk? Jasmin und ich sind doch nicht dieselbe Person.
    Mona stellte sich ans Waschbecken und schaute in den Spiegel. Für einen Moment sah sie darin Theias Gesicht, als wäre es ein Fenster in eine andere

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