Der letzte Grieche
zuläuft. In der Regel ist er aus Holz, gelegentlich auch aus Plastik. Die Zahnstocher aus Gold, die vermögende Griechen vor tausenden von Jahren benutzten, waren wahrscheinlich nicht besser als die Knochenspäne und Zypressennadeln, die ärmere Leute zu allen Zeiten benutzt haben. Weniger geeignet sind jedoch andere Metallgegenstände: Haarnadeln, Sicherheitsnadeln, Büroklammern. Ein Zahnstocher wird verwandt, um Essensreste zu entfernen, die zwischen den Zähnen oder in lästigen Zahnkronen hängengeblieben sind, aber auch, um den Zahnschmelz zu polieren und das Zahnfleisch zu massieren. Letztere Behandlung wirkt Zahnstein entgegen und beugt Zahnausfall vor. König Agathokles von Syrakus starb, als er sich einen Zahnstocher in den Mund steckte, der mit Gift eingerieben war. Im Mittelalter gingen junge Frauen mit Zahnstochern im Mund, um sich vor unerwünschten Küssen zu schützen. Um die Jahrhundertwende schafften sich kosmopolitische Männer Etuis an, in denen sie eine Nagelschere und eine Feile für den Nagel des kleinen Fingers sowie den obligatorischen Zahnstocher verwahrten. Während mehrerer finsterer Jahre einige Jahrzehnte später kam es in Mode, einen Zahnstocher aus Knochen aus einem schwarzen Futteral zu ziehen, das in der Innentasche der Uniform getragen wurde. Das Futteral zierten zwei stilisierte Blitze. Wer naiv genug war, sich zu erkundigen, ob der Zahnstocher aus Elfenbein war, bekam ein derbes Lachen zur Antwort. »Das hätte Gavril nicht gerne gehört!« A. Kauders, Herausgeber der Waldwirtschaftsbibliographie (Zagreb, 1949) soll den einzigen wissenschaftlichen Artikel über die Herstellung von Holzzahnstochern verfasst haben. In vielen Kulturen kommt nach Beendigung des Essens ein Behältnis mit Zahnstochern auf den Tisch. In manchen Anstandsbüchern wird dies jedoch als Unsitte betrachtet. Ihnen zufolge reicht es nicht, den Zahnstocher und eine Hand vor den Mund zu halten, will man Reste von moschári oder gemistés entfernen, man muss vielmehr die gesellige Runde verlassen. Sollte sich ein anderer bei Tisch derselben Beschäftigung widmen, ist es diesen Handbüchern zufolge angebracht, sich zu empfehlen – eine indirekte Rüge. In bestimmten Fällen kann auch ein Streichholz als Zahnstocher dienen, zum Beispiel aus ästhetischen Gründen (Gabin, Mastroianni) oder gelegentlich auch zu meditativen Zwecken (Georgiadis). Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass es Menschen gibt, die Gefallen daran finden, farbige Streichhölzer auf Kartonplatten zu kleben. Einige dieser Bilder gestalten abstrakte Muster, während andere eine Fregatte mit schwellenden Segeln, ein Haus mit Fahnenstange und Zaun oder einen Krokus im Profil darstellen.
Letztgenanntes Kunstwerk hing beim Nachbarn im Flur an der Wand, als Jannis am nächsten Abend anklopfte.
DAS MÜCKENBUCH. »Das hier«, sagte der Schmied und hielt das zusammengerollte Heft hoch, »das hier ist verdammt nochmal Poesie. Danke fürs Ausleihen. Schreibst du die selbst?« Er ließ sich in einen eiförmigen Sessel fallen, als hätte er nicht vor, sich jemals wieder aus ihm zu erheben. Mit dem Heft zeigte er auf den Zwillingssessel. Ollén wirkte inspiriert, Jannis kam sich dumm vor, als er ebenfalls Platz nahm. Er dachte: Ich bin in einen modernen Toilettensitz gerutscht. Er versuchte, sich aufzusetzen und auf dem Rand zu balancieren, was jedoch nicht ganz leicht war, weil die Knie gegen den Glastisch schlugen. »Anton hilft. Ich noch nicht so gut bin im Buchstaben von Schwedisch.« Der Schmied kratzte sich an seinen Ekzemen. »›Das Mückenbuch‹ … Verdammt, das sollte mein Bruder hören. Du gefällst mir.« Mechanisch bewegte er die Hand auf und ab, in der er das Heft hielt, dann schlug er sich auf die Knie. »Bin ich eigentlich bescheuert, hier sitzen wir herum und haben nichts zu trinken. Was möchtest du haben? Es gibt Wodka und Wodka. Und Wasser.« Er grinste. »Finnisch und schwedisch. Das Wasser stammt zu hundert Prozent aus dem Rövaren.«
Ehe Jannis antworten konnte, füllte der Schmied auch schon Gläser mit Koskenkorva, ergänzt um einen Spritzer Rövaren. Man konnte die Flüssigkeiten sogar unterscheiden. »Na denn Prost.« Ollén spülte genüsslich seinen Mund aus und zog anschließend an den Hosenbeinen. Der blaue Overall war zu weit hoch gerutscht. »Ohne die Kunst wüsste ich nicht, was ich im Urlaub machen sollte. Manche laufen, andere schreiben oder machen Spaziergänge. Einige machen alles, was ich verstehen kann. Ich
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