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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Augen sahen, und von einer Hilflosigkeit bezüglich der Regeln, die zwischen den Menschen in dem neuen Land galten. Aber es ließ ihn nicht kalt, wenn Agneta in seiner Nähe war. Er erinnerte sich an das Kinoplakat vor dem Odeon, und als er gelernt hatte, was ein »Kavalier« war, verfluchte er seine Begriffsstutzigkeit. Dieser Fluch war jedoch von heilsamer Art, da er zur Folge hatte, dass er bei seinen Gesprächen mit Frau Granqvist mehr an das Kindermädchen der Familie Florinos dachte, als er es sonst getan hätte, was zu einem stetig steigendem Unterdruck in seiner Seele führte – oder wo Phänomene dieser Art bei Griechen auftreten mögen. Wir können also davon ausgehen, dass in seinen Gedanken einige Kilo Agneta gewesen sein müssen, als die Kirchgänger acht Häuserblocks entfernt ihr »Halleluja!« sangen.
    Es fragt sich jedoch, was Jannis später dachte, als er um halb drei in der Nacht das Lehrbuch für den Kfz-Führerschein weglegte, nachdem er mit diesem auf dem Bauch eingeschlafen war, in den Kleidern auf dem Stuhl wühlte und das Passfoto der Verlobten fand, das er neben dem Zettel in seinem Portemonnaie verwahrte. Vermutlich dachte er, dass er bisher niemals in der Nacht gelebt hatte, sondern nur an den Tagen. Vermutlich dachte er, dass die Ungewissheit die seltsame Fähigkeit besaß, nachts größer zu werden. Vermutlich dachte er, dass er Fakten schätzte, diese harten, flachen Gegenstände, die an die Steine in Potamiá erinnerten, und dass auch sie nachts größer wurden, aber statt ihn zu belasten, ihn von einem Ufer zum anderen trugen. Und vermutlich dachte er, dass die Liebe ein solches Faktum war.
    In dieser Weise, als Tatsache, hatte Jannis Frauen nie gekannt. Als er das abgegriffene Bild betrachtete, auf dem Agneta mit ihrem Polokragen, ihren Geheimnissen und allem anderen Platz fand, fiel es ihm deshalb schwer zu glauben, dass sie nicht alles sein sollte, was er sich wünschte. Er suchte jemanden, der ihn brauchte, jemanden, der seine Gedanken im gleichen Moment hörte und verstand wie er selbst, weder früher noch später, sondern gleichzeitig, im Gegensatz zu Efi jedoch fremd blieb, und darum verlockend, und darum rätselhaft. Er suchte jemanden, der begriff, das Beste am Menschsein war, dass man wuchs, indem man in anderen verstreut wurde, nicht schrumpfte, und dass der sicherste Zufluchtsort einer war, der einen nicht verbarg. Er suchte jemanden, der sich seines Triebs zu existieren erinnerte, auch wenn er selbst es nicht tat, jemanden, der in der Lage war zu erklären, dass die Trauer um das, was man verloren hatte, und die Trauer um das, was man niemals hatte, zwei verschiedene, aber gleichermaßen unausweichliche Dinge waren, jemanden, der flüstern und ihn mit kühlen Handflächen streicheln und ihn flüsternd und streichelnd umschließen konnte wie honigfarbener Rauch, wenn die Ungewissheit um sich griff und das Herz zu einer verdammten Geisterstadt wurde. Mit anderen Worten: Jannis war wie Makedonier früher und heute und wahrscheinlich auch in Zukunft.
    »Viele von uns fühlen sich eingeschlossen«, mag er dem Passfoto zugeflüstert haben, »aber es gibt keine Wände, nur unterschiedlich gefaltete Haut, durch die in jedem Augenblick des Lebens und auch danach Millionen Partikel wie Flaumhärchen ziehen. In Wahrheit sind wir überall ein bisschen.« Wahrscheinlich dachte Jannis an die Pusteblumen, auf die er und Agneta geblasen hatten. Denn er suchte jemanden, der die Flaumhärchen tragen konnte, aus denen er gemacht war, und dessen Flaumhärchen er selbst tragen konnte und wollte und sicher auch musste, jemanden, der begriff, da war kein Unterschied, Flaumhärchen waren eben Flaumhärchen, jemanden, der Wind sein konnte und musste und deshalb auch sein wollte, oder was immer sie von einer Stelle an eine andere trug, vorwärts oder rückwärts in der Zeit, das spielte keine Rolle, oder vielleicht doch eher vorwärts, wenn er es recht bedachte, am liebsten vorwärts, weil alles immer weiterging, das war doch sein Auftrag, kaum zu glauben, aber es ging weiter vorwärts – wider Erwarten und entgegen allen Befürchtungen reisten sie durch Wände, die keine waren, und Tage und Nächte, die keine waren, und Häute, die keine waren, oder zumindest nicht, was Häute zu sein pflegten, will sagen Behälter, sondern reisten einfach, machten einfach immer weiter, vorwärts und in die Zeit hinein, in der die Flaumhärchen sich vermischten und zu anderen Häuten wurden, die auch keine

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