Der letzte Grieche
dass er mutterseelenallein auf der Welt zu sein schien. Seine Lippen bewegten sich und manchmal stach die Zungenspitze heraus. Wäre der Temperatursturz nicht gewesen, hätte Efi den neuen Fertigkeiten ihres Freundes applaudiert. Ihr Bruder stand am Schreibtisch, eine Hand auf den Kasten gelegt, in dem er seine privaten Träume verwahrte. Die Geste wirkte beschützend, beinahe ängstlich. Mehr denn je ähnelte er einem dänischen Prinzen. Abgesehen vom Ohr wäre sein Profil einer Münze würdig gewesen. Fehlte nur noch, dass der Kasten ein Totenschädel war. Als er schließlich ihrem Blick begegnete, hob er die Augenbrauen, wie um nichts sagen zu müssen.
»Das …« Jetzt entdeckte auch Jannis Efi. »Das kann man doch nicht machen?« Seine Schultern waren hilflos, sein Blick ebenso. Kostas, der begriff, dass es seinem Freund auch ohne Abschlusszeugnis gelungen war, den letzten Artikel zu lesen, nahm die Tasse an, die seine Schwester ihm reichte. »Offensichtlich geht es mit losen Elementen sehr wohl.« Er klopfte mit dem Löffel gegen die Untertasse, der Kaffee schmeckte bitter. Die Tasse abstellend, erklärte er, der Artikel sei von seiner Großmutter begonnen, aber von Osborn beendet worden. Als Eleni Vembas gestorben war, hatte ihre Kollegin den Bus nach Áno Potamiá genommen, wo sie die männlichen Dorfbewohner befragt hatte. Sie hatte auch mit Jannis’ Mutter gesprochen, den Zusammenhang erkannt und ihr ein vierzig Jahre altes Schreiben überreicht, das ihre von Doktor Isidor Semfiris ausgestellte Geburtsurkunde enthielt. So war nach und nach ein Porträt der einzigen Madame im Dorf entstanden – einer Frau, die kürzlich nach einem risikoreichen Leben verschieden war, das mit Tanzkünsten in Smyrna begonnen hatte und während der ersten Jahre im neuen Heimatland in einem ausgedienten Transportmittel gefristet wurde. »Karmen Rellas, später besser bekannt als ›Karamella‹, las Jannis laut, »›soll am 29. Februar 1900 geboren worden sein, was angesichts der Tatsache, dass 1900 kein Schaltjahr war, als ein Beispiel griechischer Dichtkunst betrachtet werden muss. Ehe sie 22 Jahre später Mutter einer Tochter wurde, an einem Herbsttag an der Grenze zu Griechenland, hatte sie Verhältnisse mit mehreren Ausländern, weshalb man den Vater der Tochter sicherheitshalber als unbekannt betrachten sollte. Handelte es sich eventuell sogar um eine Jungferngeburt?‹« Madame? Mutter? Jungferngeburt? Jannis schüttelte den Kopf. »Mein Gott …«
Er dachte an Vasso, die immer die Engelmacherin als ihre mána behandelt hatte. Aber wenn die Gehilfinnen Clios Recht hatten, war nicht Frau Poulias, sondern die Frau, mit der er auf dem Heimweg von Neochóri gesprochen hatte, seine … Moment. Großmutter. Nein, das war zu viel. Bei dem Gedanken an eine solche Abstammung wurde ihm schwindlig. Er hob den Blick. Der glitt ab, flackerte und glitt wieder ab, ruhte schließlich jedoch auf Efi. Seine Augen waren Abgründe. Sie verstand, dass sie ihm nicht helfen konnte, eine Vergangenheit zu verarbeiten, die ihn in diesem Moment neu erfand. Kein Rettungsring, keine Worte würden reichen. Weder jetzt noch jemals. Wahrscheinlich würde Jannis ganz froh sein, wenn sie mit dem Mann aus Serres ausging. Als sie ihm den Kaffee reichte, war es, als nähme sie Abschied. Der Freund leerte die Tasse so mechanisch, dass der Inhalt auch kochender Asphalt hätte sein können, ohne dass etwas passiert wäre. Dann ging er in den Flur, wo er versuchte, sich gleichzeitig die Schuhe zuzubinden und seine Jacke anzuziehen. »Tss«, war alles, was er herausbrachte, als sie ihm bei dem Ärmel half, in dem er sich verheddert hatte. »Tss …« Jannis wich rückwärts ins Treppenhaus zurück, aber bevor er ging, zeigte er noch auf die Tür und sagte etwas, worüber die Geschwister in den kommenden Jahren noch oft diskutieren sollten. »Lose Elemente, Efi, richte deinem Bruder aus, dass damit etwas anderes gemeint ist.«
Es ist doch nur ein Kapitel geworden. Zu dem zweiten werden wir später kommen müssen.
RETTUNGSRING . Und Agneta? Konnte sie Jannis helfen? Fraglich. Oder? Vielleicht doch.
Trotz allem anderen, was Jannis während seines Aufenthalts in Balslöv beschäftigte, war er sich der Anziehungskraft von 55 Kilo Weiblichkeit, verteilt auf 172 Zentimeter und gekrönt von gesponnenem Licht, durchaus bewusst gewesen. Möglicherweise handelte es sich um eine begrenzte Zugkraft, gehemmt von der Ungewissheit darüber, was die fast gasflammenblauen
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