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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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seine Geschichte nicht immer den gleichen Verlauf nehmen. Was nicht weiter schlimm ist: So gestaltet ein Mensch das Dasein für sich verständlicher, nicht zuletzt in Zeiten, in denen es sich neu oder umstritten anfühlt. Unter den Ereignissen, die das Leben während seines dritten Herbsts im Ausland verwirrten, wählen wir eine Handvoll, vielleicht auch mehr aus. Da er nicht wusste, was Ursache und was Wirkung war, sollte er später in der Reihenfolge an sie denken, in der sie hier wiedergegeben werden. Wir erzählen uns ja das Leben nicht immer in der Reihenfolge, in der wir es erlebt haben. Sicherheitshalber haben wir die Ereignisse deshalb chronologisch nummeriert. Auf die Art kann jeder, falls es nötig sein sollte, die richtige Abfolge wiederherstellen.
    (2) Einige Wochen nach Semesterbeginn stritten sich die Eheleute. Wir haben versprochen, diesen Ehekrächen, die sich mit der Zeit häuften, keine Beachtung zu schenken, aber für diesen müssen wir eine Ausnahme machen. Wie es losgegangen war, wusste Jannis nicht zu sagen. Müdigkeit, Spannungen, aufgebrauchtes Vertrauen … Er nahm an, dass es die üblichen Gründe waren. Nach einem halben Abend, den sich beide anders vorgestellt hatten, stöhnte Agneta und sagte etwas, was die Unterhaltung kippen ließ: »Kannst du nicht wie ein Mensch sprechen?« Die Spitze war ungerecht. Ihr Mann hatte bloß angeregt, dass sie ein wenig öfter zu Hause bleiben und tun sollte, was griechische Frauen zu tun pflegten. Was vielleicht nicht gerade wenig war. Als sie wissen wollte, ob sie richtig gehört habe, setzte er zu einer Erklärung an, vertauschte jedoch leider die Satzteile und behauptete, Mütter seien abhängig von ihren Kindern. Oder so ähnlich. Agneta fasste sich an den Kopf. Sie hatte es geahnt, er war wie alle anderen Gastarbeiter auch. Subjekt, Objekt, spielte das etwa keine Rolle? Sie sollte am besten den Mund halten und nur unaufhörlich Milch und jede Menge Lämmer produzieren. Eventuell zwischendurch blöken. Aber ansonsten zufrieden sein mit ihrem Los. Von wegen. Nicht mit ihr.
    »Agneta, du wolltest heiraten einen Gastarbeiter. Jetzt du hast einen Gastarbeiter. Jetzt du nicht bist zufrieden?« Bei jedem Satz schlug Jannis sich mit den flachen Händen immer fester auf seine Schenkel. Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass tatsächlich geschah, was geschah. »Mein Gott«, stöhnte seine Frau, »du kapierst aber auch gar nichts.« Sie drehte sich um. Im Schlafzimmer wachte gerade ihre Tochter auf. »Und jetzt weckst du Jane.« »Jannoula.« »Jane.« »Jannoula.« Ihr Gatte verstaute seine Fäuste in den Achselhöhlen. Die Oberarmmuskeln schwollen an. In diesem Moment gab es nichts Sanftes mehr an ihm. Das Kind begann zu schreien. Agneta stand auf. »Was du tust?« »Was ich tue? Ich kümmere mich um meine Tochter.« » Unsere Tochter. Sie auch ist meine Tochter.« Als Jannis versuchte, sich an ihr vorbei durch die Tür zu zwängen, hob er aus irgendeinem Grund die Hand. Vielleicht wollte er sich auf den Türpfosten stützen, aber falls es so war, griff er ins Leere. Seine Frau duckte sich und schob sich vor ihn, rutschte auf dem Teppich aus, schlug mit dem Kinn auf, rappelte sich aber wieder hoch und knallte die Tür zu.
    Als unser … was? Held? hörte, dass sich der Schlüssel im Schloss drehte, blitzte es in einem unbenutzten Teil seines Gehirns. Rasend schnell breiteten sich Schmerz und Schwärze hinter seinem Stirnbein aus. Wattebauschgroße Schneeflocken trieben umher. Sie waren glühend heiß. Sie schmolzen nicht. Sie quälten ihn. »Sie auch ist meine Tochter, du hörst?« (Wir geben wieder, wie es klang, was er sagte.) »Es nicht gibt Sinn, sich anders zu kümmern um sie.« (Jannis’ Schwedisch wurde wirklich schlechter, wenn er erregt war.) Er zerrte an der Klinke. Er ging im Wohnzimmer auf und ab. Er klopfte an die Schlafzimmertür. Er hatte das Gefühl, von etwas wesentlich Wichtigerem als dem Paradies ausgeschlossen zu werden. Er hob eine Decke vom Boden auf, schaffte es aber nicht, sie zusammenzufalten, und warf sie auf die Couch. Es ärgerte ihn, dass der Stoff so weich und kraftlos auf den Fußboden rutschte. Er ging in die Küche. Das böse Blut donnerte weiter in seinem Kopf. Als ihm das Keramikgefäß ins Auge fiel, das Anton ihm überreicht hatte, wischte er es zusammen mit Pfeffermühle und Zuckerdose vom Kräuterregal. Der Raum explodierte in einer Wolke aus Zucker und glasierten Scherben. Im Schlafzimmer schrie seine

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