Der letzte Grieche
einen Grund dafür hätte nennen können, beschloss sie, den beiden zu folgen. Sie hatte noch etwas Zeit. Der Kinderwagen federte, und sie verspürte eine ungeahnte Heiterkeit bei dem Gedanken, nicht zu wissen, worauf sie sich einließ. Es war nicht weiter schwer, mit den Männern Schritt zu halten, denn die beiden bewegten sich eher in ihren Gedanken als auf dem Bürgersteig. Der größere hatte eine Hand in der Tasche und gestikulierte mit der freien, der andere hielt seine Finger auf dem Rücken, wo sie mit einer kombolój spielten. Falls die Männer noch keine Akademiker waren, vermutete Agneta, würden sie es bald sein. Sie betrachtete das Lehrbuch für Krankenschwestern, das neben den Füßen ihrer Tochter lag, und fühlte eine angenehme Verbundenheit.
Unwissend um das Gespann, das ihnen folgte, flanierten die Griechen durch stille Eigenheimsiedlungen, in denen Wassersprenger hinter schattenspendenden Hecken ihr methodisches Tschick-Tschack hören ließen, bis zu dem neuen Wohnviertel aus robustem Backstein, das noch im Bau befindlich war und den Namen Sparta bekommen hatte. Agneta wusste nicht, warum die Universitätsverwaltung ausländische Bezeichnungen bevorzugte. Mehrere der alten Gebäude im Stadtzentrum, die von den Studenten besetzt worden waren und an denen abblätternde Plakate noch Raubvögel mit Bomben unter den Schwingen erkennen ließen, trugen lateinische Namen. Vielleicht waren die Namen für die neuen Siedlungen ein Weg, sich mit einem Land zu solidarisieren, das die Geburt der Demokratie gesehen hatte, nun aber von Panzerketten überrollt wurde. Sie war sich nicht sicher, ob die Anfänge der Volksherrschaft wirklich aus Sparta stammten, wusste aber, dass Delphi der Ort war, an dem sich der Nabel der Welt befand, denn das hatte Jannis ihr erzählt, als er das Schweineschwänzchen küsste, das aus ihrem Achtmonatsbauch ragte.
Hatten sie sich damals zum letzten Mal ohne Hintergedanken, ohne Vorbehalte, verschwitzt und glücklich geliebt? Darüber lachend, wie schwierig es war, trotz des riesigen Hügels zwischen ihnen Kontakt zu bekommen, hatte Agneta sich auf alle Viere gestellt, mit den Hüften gewackelt und während die Wange errötete, die nicht im Kissen lag, geflüstert: »Deck mich wie eine Sau, mein Schweinehirte.« Sie hatte sich selig und schwer und vollkommen grenzenlos gefühlt, als Jannis gekeucht hatte: »Warum soll ich dich zudecken, Agneta mou ?« Stöhnend und lachend hatte sie die Knie noch etwas mehr gespreizt, während ihr Bauch auf der Decke unter ihr ruhte und zwei warme Hände auf ihren Lenden plaziert waren. Und jetzt? Wie waren diese struppigen Zweige und abgrundtiefen Wasser zwischen sie geraten? Warum war es so schwer, das Schweigen zu brechen, das immer erbärmlicher wurde? Wenn Jannis etwas Nettes oder Verrücktes sagte, wich sie innerlich einen Schritt zurück und verschränkte die Arme, fühlte sich auf unerklärliche Weise gekränkt oder erwartete eine Bemerkung, die unmöglich kommen konnte, das wusste sie genau. Sie hatte das Gefühl, dagegen machtlos zu sein. Plötzlich reizte sie alles, was sie früher schön und wild oder in seiner Unschuld reizend gefunden hatte: Seine aufrichtige Verwunderung darüber, dass sie keine weiteren Kinder zur Welt bringen und ihn nicht allein für den Unterhalt der Familie sorgen lassen wollte, seine Unfähigkeit, etwas anderes zu wollen, als es ihr recht zu machen, während er gleichzeitig nicht aufhörte, über die Ziege oder seine Großmutter zu sprechen und auch nicht sehen konnte, was seine Frau im Leben wirklich brauchte; dass er keine Ahnung hatte, was die Leute hinter seinem Rücken über ihn erzählten, wobei sie auch noch glaubten, auf ihre Verschwiegenheit zählen zu können (und das konnten sie, was Agneta wiederum noch trauriger machte); sein übertriebener und wirklich ziemlich kindischer Traum von einem Studium, den ihm sicher der Doktor eingegeben hatte, der aber nun einmal aus einer ganz anderen, von Lackschuhen und gemangelten Servietten bevölkerten Welt stammte; das ewige Streichholz und die dünnen Strümpfe, die immer rochen, obwohl sie die Paare heimlich wusch. Agneta Georgiadis-Thunell schämte sich für ihre Kleinlichkeit, aber wenn sie an ihre Ehe dachte, verhärtete sich etwas in ihr. Hauptsache, es endete nicht wie mit Bengt, wenn auch auf Griechisch.
Noch wagte sie es nicht, dem unverstellten Menschen, der sie irgendwo zwischen allem Gerümpel und aller Verwirrung in ihrem Inneren immer noch war,
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