Der letzte Grieche

das traurigste Geheimnis zuzuflüstern, aber sie ahnte, dass ihre Ehe auf schlampige Weise zustande gekommen war. Und dass sie auf dem besten Weg war, ihr zu entwachsen. Ohne es sich eingestehen zu können, bereitete sie sich schon auf eine Zeit mit Tagen vor, die so sein würden wie dieser 29. August, jedoch in anderen als Jannis’ Kalendern.
    »Darf ich mal sehen?« Der Mann, der sich über den Kinderwagen beugte, war klein. Er hatte einen buschigen Schnäuzer und hielt die Hände immer noch auf dem Rücken. Die Bernsteine klimperten zwischen den Fingern, während sich sein Kopf vor und zurück bewegte, als suchte er in dem Wagen nach etwas. Als er aufblickte, erklärte er, unübersehbar stolz auf die Vokabel: »Schönheitsschlaf!« Aus seinem Mund klang es wie eine Weltsensation. Ein Goldzahn blitzte auf. Der Mann schob ein mit erstarrten Zementtropfen bedecktes Metallgitter zur Seite, damit Agneta ihren Kinderwagen auf dem staubigen Weg wenden konnte. Sein Freund schwieg verlegen. Auch er hatte einen olivfarbenen Teint, war aber einen lockigen Kopf größer. Er hatte eine ungewöhnlich ranke, nahezu prinzenhafte Körperhaltung und trug weiße Holzschuhe. Zwischen seinen dicken Fingern glühte eine Zigarette. Seine großen Augen sahen Agneta mit einer Glut an, als hätten sie ein Leben lang darauf gewartet, ihr zu begegnen. (Das ist wahr.) Plötzlich wurde sie nervös. Irgendwo in ihrem oben erwähnten Inneren, in jener namenlosen Region, zu der nur sie den Weg gefunden hatte, erwachten fremde Gefühle. Etwas sehr Wertvolles, etwas sehr Erfreuliches begann, sich aus den Fugen zu lösen. Später sollte Agneta vom »rötesten Tag in meinem Leben« sprechen und erklären, nicht einmal ein Supergrieche hätte gegen solche Umwälzungen etwas ausrichten können, aber noch wunderte sie sich nur über diese Hitze und Nervosität und war sich in einem anderen, nüchterneren Teil ihrer selbst gleichzeitig bewusst, dass Jannis an der Bushaltestelle wartete.
    »Mein Freund hier«, erläuterte der Mann mit dem Schnäuzer, »ist Hermodsabiturient aus Bromölla. Wenn die Häuser fertig sind, er zieht nach Sparta. Obwohl schon jetzt er hält einen Vortrag. Über die Gastarbeiter von heute. Das Fräulein vielleicht ist lüstern zu kommen?« Der Mann ohne Schnäuzer, der soeben etwas erlebte, was man als Revolution betrachten könnte, räusperte sich. »Lust. Wenn sie Lust hat …« Aber sein Kollege hörte ihn nicht. Stattdessen suchte er in seinen Jacketttaschen und gab Agneta einen Handzettel, den sie ungelesen in die Tasche zu Janes Füßen legte. Sie konnte nicht erklären, warum sie den Kinderwagen auf dem Rückweg so kraftvoll, fast aufgekratzt schob. Aber sie ahnte, warum sie beschloss, nicht zur Bushaltestelle, sondern geradewegs nach Hause zu gehen: Sie wollte mit diesen Umwälzungen noch einen Moment allein sein. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, wirklich gesehen zu werden.
    Oh, Jannis Georgiadis.
    MEINE AUGEN. » Mátia mou «, sagte Jannis eines Morgens im September. Er stand im Wohnzimmer am Fenster, die Sonne machte den Himmel in diesem Augenblick leicht wie eine Feder. Ein Dackel lief – oder wie man das nennen soll – über die Straße und verschwand auf der Baustelle. Agneta schlief noch. Er hob seine Tochter hoch wie eine Trophäe aus Haut und klitzekleinen Organen. Ihre Augen waren wie stehendes Wasser, schimmernd von Licht und Algen. In den Winkeln sah man getrocknetes Sekret, das er entfernte, indem er die Zungenspitze dagegen presste.
    » Mátia mou «, wiederholte Jannis, der den Tag schon immer gern mit Sand in den Augen begonnen hatte. Kaum wach und mit einer schmerzlichen Herrlichkeit auf dem Bauch, dachte er über die Bilder nach, die flink und flutschig wie Silberfische durch sein Bewusstsein huschten. Er mochte die Träume, die sich mit ungerufenen Erinnerungen vermischten, in denen er siebzehn oder fünf Jahre oder so alt wie am Vorabend war. Auf der Bettkante sitzend, erinnerte er sich an Äußerungen aus Gesprächen, die er zwei Wochen zuvor geführt hatte, oder an die komplizierten Bewässerungsanordnungen, die er als Kind erstellt hatte. Er erinnerte sich an Dinge, die er den Bauern versprochen hatte, für die er arbeitete, oder wie er den Hang am Friedhof hinunter getaumelt und mit dem Knie gegen den Grabstein seines Vaters gestoßen war. Er erinnerte sich an den Nebel, der morgens wie Rauch über dem Tal gelegen hatte, und als er nach der Wunde an der Innenseite seiner Wange tastete,