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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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erkannte er, dass die Erinnerungen immer schon den Geschmack von Eisen gehabt hatten. Trotzdem waren diese einsamen Minuten, in denen das Gehirn ohne sein Zutun die Reste der Nacht zu inventarisieren schien, kein Ritual. Dazu kam es viel zu häufig vor, dass er sich anzog, ohne an irgendetwas zu denken. Aber wäre es ein Ritual gewesen, dann wäre es Jannis’ Morgengebet gewesen, eine stille Vergewisserung, dass er in der Welt existierte.
    » Mátia mou «, sagte er und erkannte weder zum ersten noch zum letzten Mal, dass er nicht allein auf der Welt war. Auch wenn er sich wünschte, ebenso sehr zu Agneta und Jannoula zu gehören, konnte er nicht entscheiden, ob es wirklich so war. Mittlerweile setzte er sich in so verschwenderischer Weise in anderen Menschen fort, dass er sich zuweilen mit dem Gedanken überraschte, dass dies ewig weitergehen würde. Es war eine ebenso selbstverständliche wie wundersame Einsicht: Er würde für den Rest seines Lebens niemals allein sein. Was immer er sagte und tat, was immer er erlebte oder zu tun unterließ, würde er mit Frau und Tochter teilen. (Oh Jannis.) Und als diese Gewissheit durch ihn fiel wie lauer Sommerregen, erkannte er, dass er im Grunde niemals nur er selbst gewesen war, sich aber häufig so gefühlt hatte. Trotz der Jahre auf den Feldern, als man vor Einbruch der Dämmerung kaum ein Dutzend Worte miteinander wechselte, trotz Wintermonaten, die so eisig waren, dass die Kälte niemals aus dem Körper wich, trotz der Wochen, in denen in der Schule nur Efi mit ihm sprach, und trotz der untätigen Tage hinter dem verschmierten Abteilfenster auf dem Weg durch Europa, trotz all dieser einsamen Zeit war er immer von älteren wie jüngeren, bekannten und unbekannten Menschen erfüllt gewesen. So hatte er es vor Agneta und Jannoula empfunden. Jetzt war es anders. Jetzt war er deutlicher als je zuvor auf andere verteilt.
    » Mátia mou «, sagte Jannis deshalb und wiederholte einen Gedanken, mit dem er nicht alleine stand: »Du bist alles Beste in mir. Ich glaube wirklich, dass du mehr ich bist, als ich es selbst jemals sein könnte.« Er nahm die Hand seiner Tochter und versuchte, sie sich in den Mund zu stecken. Die Finger spreizten sich, die Zunge wurde weggedrückt. Er dachte, dass der Mittelpunkt in seinem Leben nicht mehr Áno Potamiá hieß, nicht Lund und auch nicht Eden. Der Mittelpunkt war dieses anspruchslose Wesen, diese kaum mehr als faustgroße Sonne, die in ihm und außerhalb von ihm war und ihn in eine dazugehörige Milchstraße verwandelte.
    » Mátia mou «, fuhr er fort, als er entdeckte, dass die Vertiefung zwischen Schlüsselbein und Hals wie gemacht war für das Gesicht seiner Tochter, eine Form aus Leere, die sechsundzwanzig Jahre darauf gewartet hatte, gefüllt zu werden. Er ließ sie dort ruhen, während Speichel aus ihrem Mund sickerte. Äonen vergingen. Als er von Neuem nach seiner Tochter griff und sie hochhielt, ahnte er, dass sie keine Plattfüße bekommen würde, die Füße ihres Vaters sie jedoch an Böschungen mit Hühnerdreck und Tabakblättern erinnern würden, die sie zwar nie unter ihren eigenen Fußsohlen gespürt hatte, die aber trotzdem auch zu ihr gehörten. Er ahnte, dass das Grübchen in ihrem Kinn sie an ihrem Großvater vorbeiführen würde, dem sie nie begegnet war, von dem sie aber wusste, dass er eine Ader aus Rost hatte, die sich die Nase hinab und in den Gaumen schlängelte, zu Männern in Unterhemden mit Mehl an den Händen, und er ahnte, dasselbe Grübchen würde sie vorwärts tragen zu Wesen, die noch nicht geboren waren, aber irgendwann ihre Finger darauf pressen würden. Er ahnte, dass seine Tochter bereits Orte enthielt, an denen die Zukunft nur darauf wartete, sich zu ereignen − eine Kniebeuge? ein Knöchel? zusammengewachsene Augenbrauen? – und er wurde von dem Gedanken überwältigt, dass solche unbekannten Orte mit hohen Anteilen an Lust und Schmerz auf den wichtigsten Quadratmetern Haut in dieser Welt Platz fanden. Plötzlich schauderte Jannis. Wie lange würde er in diesen 7,5 Kilo Jannoula andauern? Oder in den 53 Kilo Agneta? Er schüttelte den Kopf, er lachte. Er war ja phantastisch! Wie sollte der Teil von ihm, der in ihnen war, enden können?
    » Mátia mou? «, Erstaunt musterte er die Augen seiner Tochter: »Deine Juwelen sind ja grün geworden.«
    EINE HANDVOLL EREIGNISSE, AUS DENEN DAS DASEIN BESTEHT, VIELLEICHT AUCH MEHR . Jannis wäre der erste, der bestätigen würde, dass das Leben selbst und

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