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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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seitwärts aus dem Dorf. In der Ferne röhrte Gourgouras’ Traktor. Jannis’ Gehirn war verwüstet. Nach einer Weile stellte die Morgenluft jedoch eine gewisse Ordnung her. So erkannte er, dass es Handlungen gab, die sich nicht ungeschehen machen ließen. So erkannte er, dass Dusel und Glück nichts mit dem Leben zu tun hatten. So erkannte er, dass er seine Scham herunterschlucken und sich bei seinen Freunden in Neochóri melden musste. Die Pokerpartie hatte ihn diese simple Wahrheit gelehrt: Straßen führten in zwei Richtungen.
    WARUM DIE FREUNDE IN NEOCHÓRI? Das Nachbardorf lag dreihundert Meter niedriger über dem Meeresspiegel. Sowie sieben Kilometer entfernt. Dort gab es einen schweigsamen Postmeister, der überall behaart war, nur nicht auf dem Kopf. Die krausen Haare wuchsen ihm bis zu den Fingerknöcheln hinunter und zu den Schulterblättern hinauf, über die Fesseln rund und um die Hüftknochen, aus den Nasenlöchern und in die Ohrmuscheln. Wenn er sich morgens und nachmittags rasierte, immer zwei Mal, um auf der sicheren Seite zu sein, schimmerte die Haut bleiblass zwischen den Wirbeln in der Kragenöffnung und dem Rußrand entlang der Wangenknochen – als hätte er Wangen und Kinn sauber gepflügt, gegen die restliche Vegetation jedoch nichts ausrichten können. Allen, auch ihm selbst, war es ein Rätsel, dass die engelsgleichen Locken, die seinen Kopf in der Jugend geziert hatten, schlagartig im Alter von zwanzig Jahre von einem Haarwuchs ersetzt wurden, über den seine Gattin niemals ein Wort verlor, den sie jedoch gelegentlich mit der flachen Hand streichelte, nachdem sie insgeheim auf ihre Finger gespuckt hatte, weil es sie beunruhigte, dass sich die wenigen übriggebliebenen Haare mit solch schändlicher Sinnlichkeit aufrichteten.
    Soula wusste, dass Evangelos nicht nur ihr Cousin war, sondern auch ein wollüstiges Wesen mit Händen und Lippen, weicher als die Haut eines Pfirsichs. Aber sie fand, dass andere Frauen dies nicht unbedingt erfahren mussten. Sollten sie ruhig aus seinem kahlen Schädel, seiner Schwerhörigkeit und der zerstreuten Art die falschen Schlüsse ziehen. Sollten sie doch glauben, dass er eine Wünschelrute brauchte, um die feuchten Regionen zu finden. Wenn sie ihren Mann hinter dem mattglasigen Posthorn im Fenster, mit aufgeknöpftem Hemd und in Gedanken verloren, sah, lächelte sie in sich hinein. Ihr Liebesaffe wusste nicht, wie weich ihre Lenden allein schon davon wurden, ihn nur zu sehen. Es reichte, dass er aufblickte, um die Hitze in ihrem Unterleib entflammen und zur einzigen Sonne werden zu lassen, die diesen Namen verdient hatte.
    Soulas’ Liebe zu dem Mann, den sie in den vier Wänden des Schlafzimmers ihren »Liebesaffen« nannte, weil seine Hände die Fähigkeit hatten, überall gleichzeitig zu sein, diese wirklich allerorten gegenwärtige Liebe hatte dem Paar zwei Kinder geschenkt – das eine mit cherubimischen Locken auf einem Kopf mit ungewöhnlich großen Ohren und dem jünglinghaften Körper eines dänischen Prinzen, das andere mit vollkommen glatten und glänzenden Haaren, die auch auf der Innenseite der Waden wuchsen und von dem Mädchen entfernt wurden, zu welchem Zweck es unter größter Geheimhaltung Kirchenkerzen auf dem Herd schmolz. Kostas und Efi hießen die Kinder und waren zufällig Jannis’ beste (einzige) Freunde im Nachbardorf. Mit ihnen war er zur Schule gegangen, so lange es währte, mit ihnen hatte er die Art Geheimnisse ausgetauscht, die einen Menschen auf der Schwelle zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt beschäftigen, mit ihnen hatte er die einzige Frage diskutiert, die halbwüchsige Makedonier neben der Wehrpflicht und dem anderen Geschlecht interessierte: Sollte man bei Vieh und Tabak bleiben, nachdem man aus der Armee entlassen worden war, oder irgendwohin ziehen, wo es glänzende Autos und Stechuhren gab, die anderen Gesetzen als dem Wechsel der Jahreszeiten folgten?
    Zunächst hatte Efi und später dann auch Kostas begonnen, regelmäßig den Bus aus den Bergen und in die Stadt zu nehmen. Und schon bald würden beide es für immer tun. Ihre Motive waren unterschiedlich – sie litt an chronischer Arthrose, er träumte von der Literatur –, aber das beeinflusste Jannis nicht. Wenn er der Postkarte Glauben schenken durfte, die Kostas ihm gezeigt hatte und die der Bruder ihres alten Lehrers aus einem Land geschickt hatte, das »so weit nördlich liegt, wie ein Grieche nur reisen kann und trotzdem noch in Sichtweite der Karte

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