Der letzte Grieche
Premierminister Venizelos endlich Kolettis’ große Idee verwirklichen wird. Aber noch sind keine Kriegsschiffe zu sehen, und auf der Hafenpromenade spielen die Kinder mit Holzschwertern und Blechschilden. In den Fenstern glitzern tausend verrückte Sonnen – außer in Koriandrous Boutique, wo gestreifte Markisen stattdessen französische Waren davor schützen, früher als notwendig verramscht zu werden. Sicherheitshalber hat die junge Besitzerin, Madame Hélène Koriandrou-Barthez, die Innenseite der Fenster mit grünem Zelluloid bekleben lassen, weshalb die schweinchenrosa Negligees, die gepanzerten Büstenhalter und quastenverzierten Pantoffeln in algenreichem Aquariumwasser schwimmen. Gegen halb sechs, wenn der Abendhandel in Schwung kommt und die ausländischen Offiziere vor dem Heimaturlaub einkaufen gehen, kommt Despinas zweiundzwanzigjähriger Sohn in die Bäckerei. Er ist mager. Er ist hungrig. Er wird nicht mehr Jannakis genannt. Schweigsam wie immer, nimmt er sich eine der koulloúria , die in Stapeln auf der Ladentheke liegen. Während er kaut, überlegt er, ob er erzählen soll, dass Frau Koriandrou-Barthez eine Invasion vor dem Jahresende prophezeit hat. Das Innere der Kringel ist lauwarm, die Sesamkörner schmecken nach Ruß. Seine Mutter, die hinter der Theke steht, sieht ihm zu, ohne wirklich etwas zu sehen. Mechanisch reibt sie mit einem Handtuch auf und ab über das ärmellose Kleid, als wäre ein Fleck darauf. Als der Sohn geschluckt hat, flüstert sie mit Augen aus nassem Porzellan: »Großvater … Großvater ist tot.«
Lefteris Bakirikas sitzt auf der Bank in der rußigen Nische neben dem Ofen. Die Luke steht offen, die Kohle knistert kryptisch. Die Hasenscharte schließt die Ofentür mit dem Feuerhaken. Als er vor den Augen des Großvaters winkt, reagiert dieser nicht. Er lehnte sich vor. Auch jetzt nicht. Ein Stück des Gebisses, auf das der Bäcker so stolz gewesen war, dass er es beim Osteressen sämtlichen Gästen zeigte – aus Stahldraht und Perlmutt, glänzend auf seinem Handteller –, schiebt sich aus dem Mund wie ein unbekanntes Tier. Despina, die immer noch mit dem Handtuch reibt, erzählt, dass sie hörte, wie ein Blech zu Boden fiel. Überall liegt Teig, der sich der Form dessen angepasst hat, was er zufällig traf. Auch der Großvater ähnelte einem Teig. Er torkelte umher, während sie ihn vergeblich festzuhalten versuchte. Schließlich sackte er auf der Bank in sich zusammen. Als sie mit einem Glas Wasser zurückkehrte, schlug er sich auf die Brust und röchelte. Sie riss das Hemd auf, damit er Luft bekam. Aber sein Gesicht lief nur immer röter an. Eine Minute später war er tot.
Ihr Sohn legt ein Handtuch auf das Gesicht seines Großvaters. »Wir lassen ihn in Ruhe, Mutter.« Wegen seiner Hasenscharte spricht er undeutlich. »Ich komme später zurück.« Er führt Despina hinaus. In der Hand hält sie einen Hemdknopf mit dazugehörigem Fadenstummel. Sie gehen die Avenuen hinab, an Cafés und Geschäften und Menschen vorbei, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen. Binnen weniger Jahre hat Smyrna das 19. Jahrhundert abgeschüttelt und ist eine moderne Stadt mit Straßenbahnen und Telefonmasten geworden. Federnde Automobile manövrieren zwischen Pferden und Fußgängern. Einzelne Fahrradfahrer rollen vorbei, ein herrenloser Hund schnüffelt am Straßenrand entlang. Als sie in die Daphnestraße einbiegen, ruft Vembas ihnen aus dem dunklen Inneren seiner Werkstatt etwas zu, aber die Hasenscharte winkt abwehrend. Sofia steht am Gartentor. »Thée mou«, ist alles, was sie sagt. »Mein Gott.« Der Sohn lässt den Arm seiner Mutter nicht los – nicht einmal, als sie sich aufs Sofa setzt. Erst als er glaubt, dass sie eingeschlafen ist, befreit er sich vorsichtig aus ihrem Griff. »Verlass mich nicht«, flüstert die Mutter klar, aber monoton, als wäre es nicht ihre eigene Stimme. »Habe ich dich jemals verlassen, Mutter? Ich will nur mal nach Großmutter sehen.« Und dann geschah, woran Despina zurückdenken sollte, als sie viele Jahre später unseren Jannis tröstete: Die Hasenscharte presst, fest, aber zärtlich, die Fingerknöchel auf ihren Mund. Als er gegangen ist, weiß sie, dass er ihr gehört.
HEIMAT UND HEIMAT. Das Haus in der Daphnestraße überlebte den September fünf Jahre später nicht. Unfähig, sich vom Sofa zu erheben, kam Sofia in den Flammen um. Zu diesem Zeitpunkt war sie sehr jung. Mit jedem Jahr, das seit dem Herzinfarkt ihres Mannes vergangen war,
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