Der letzte Grieche
bewegte sie sich zwanzig Jahre zurück. Als die Verhandlungsdelegationen im Herbst 1918 in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne die Dokumente unterzeichneten, war sie in ihren besten Jahren. Nach dem Frieden in Sèvres war sie niemals schwanger gewesen. Und bei ihrem Tod war sie kaum schulreif. »Mama, schlaf ein bisschen«, ermahnte die Tochter sie, wenn sie aus der Bäckerei heimkehrte. »Du weißt doch, dass man die Augen zumachen kann?« Woraufhin Sofia sie gehorsam zupresste, ausgestreckt, die Arme seitlich anliegend wie bei einer Puppe. »Wer in dieser Welt schläft«, erklärte sie, als handelte es sich bei den Worten um etwas, was sie auswendig gelernt hatte, »ist in der nächsten wach.« Ob sie das überhaupt noch sagen konnte, als das Haus verwüstet wurde, ist unsicher.
An einem warmen Septembertag mit ungünstigen Winden – man schreibt das Jahr 1922 – sperrten türkische Truppen die armenischen Stadtviertel ab. Sie waren in steifen Uniformen und mit blitzenden Säbeln zu Pferd eingefallen – hager, finster, entschlossen. Eine knappe Woche machten sie mit den Einwohnern, was sie wollten. Als sich der Wind schließlich in Richtung der christlichen Stadtteile drehte, steckten sie die Häuser in Brand. Da die Soldaten auf den Straßen Benzin verschüttet hatten, breitete sich das Feuer schnell und gierig aus. Despina und die Hasenscharte verriegelten gerade die Bäckerei, als sie den Theaterdonner-der-keiner-war näherkommen hörten. Die Luft knisterte, die Hitze nahm zu. Statt nach Hause zu eilen, suchten sie Schutz im Keller, wo sie nasse Taschentücher gegen Nase und Mund pressten und abwechselnd Wache hielten. Aber die gefürchteten Schläge gegen die Tür ertönten erst um sieben Uhr am nächsten Morgen, als sie sich schon in dem Glauben zu wiegen begannen, die Soldaten hätten sie vergessen. Mit einem matten Blick des Einvernehmens – müde Augen, rauchgerötete Augen – hoben sie Nudelholz und Brotmesser. Sie hatten nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Als der Besucher rief: »I-ich bin … Ja, also i-ich bin e-es«, legte die Mutter jedoch ihre Waffe weg. »Das wurde aber auch Zeit«, stöhnte sie und stieg die Treppe hinauf. Vor der Tür stand Erol Bulut mit einem üppigen Bart und in der Kleidung eines Gebetsrufers. Die Luft war voll feinster Asche. Er atmete schwer, nachdem er von der Daphnestraße aus gerannt war. »D-Du hast recht«, erklärte er, tonlos, aber verständlich, als hätte ihre letzte Unterhaltung zwei Jahrzehnte zuvor niemals geendet. Despina zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht genau, was er meinte, wohl aber, dass er die Wahrheit sagte. »Es ist V-Vollmond, meine ich. Dein Gott versteckt sich gerade in ei-einem Kaninchenlo-och.«
Während General Noureddins Armee Smyrnas Straßen in ein Schlachtfeld verwandelte, ging Despinas Sohn mit einem Fez und einem fußlangen Gewand, die Erol Bulut ihm geliehen hatte, nach Hause. Wegen der Luft atmete er flach wie ein Vogel. Als er entdeckte, was im Rinnstein lag (Kleider, Ikonen mit ausgestochenen Augen und – konnte das wahr sein? – die Hand eines Menschen), beschleunigte er seine Schritte. Falls sich die falschen Leute für einen bartlosen Gebetsrufer interessieren sollten, würde es nur eine Minute dauern, bis mehr als bloß sein Gaumen gespalten war. In der Daphnestraße ragten verkohlte Balken vor einem tiefen Himmel kreuz und quer in die Höhe. Die Wände waren eingestürzt, stinkende Teppiche und Stroh schwelten. In der Luft schwebten Rußflocken, im Blumenbeet lag eine Küchenschublade mit Löffeln, in denen der Teil der Sonne, dem es gelungen war, sich durchzusetzen, wahllos schimmerte. Über dem Gartentor hing der Morgenmantel, den seine Großmutter zwei Jahre zuvor bekommen hatte. Er erkannte den Weidenast auf dem Rücken – ein bisschen Chinoiserie, als Sofia auf ihrem Weg zurück gerade in der Pubertät war. Die Gummireifen von Despinas Enfield waren weich wie Teer, die Pumpe, die an der Stange saß, heiß wie ein Brenneisen. Als er davonrollte, klebten Grus und Nadeln an den Rädern.
An der Kreuzung zur großen Avenue entdeckte er, dass das Treppengeländer zu Vembas’ Büro in eine Etage führte, die nicht mehr existierte. Auch die Treppe war fort. Die Türen zur Werkstatt standen noch offen. In dieser lag alles herzlos durcheinander gewürfelt, aber der Austin der Familie glänzte mitten in diesem Chaos ohne eine einzige Schramme. Das Licht spiegelte sich in dem selbst fabrizierten Rückspiegel,
Weitere Kostenlose Bücher