Der letzte Grieche
gewohnt waren, dass man so mit ihnen sprach, hatten keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollten. Stattdessen setzten sie sich auf die unterste Stufe, neben die neuen Stiefel ihres Vaters, die eine Nummer zu groß waren und bald den Besitzer wechseln würden. Schweigend sahen sie zu, während Jannis seine Habseligkeiten auspackte. Sein Koffer beinhaltete nicht viel, was sie davon abhielt, zu lachen. Die Kleidungsstücke wurden in einem Unterschrank verstaut. Als Letztes landete ein in Leinen eingebundenes und in ein langärmliges Unterhemd gewickeltes Buch auf dem Tisch.
Der Gast benötigte gerade einmal eine Viertelstunde, um sich häuslich einzurichten. Etwas länger brauchte er – einen knappen Tag –, um sich unentbehrlich zu machen, was an seiner Bereitschaft lag, alles kennenzulernen, was er nicht kannte, was nicht gerade wenig war, selbst wenn man von Käsehobeln und Buchstaben absah. Bis zum Mittagessen hatte er außerdem das Auto sowie den halben Weg um das Haus herum freigeschaufelt. Nach dem Essen räumte er die andere Hälfte der Strecke, bis zum Eisenbahnübergang, hinter dem sich der Sportplatz erstreckte. Die Wegstrecke war für einen diensthabenden Arzt mit einem mittelgroßen Fahrzeug nun wieder befahrbar. Am Abend behauptete der Gast nicht mehr, Student an der Universität Bromölla zu sein, beharrte jedoch darauf, die Kanalisation im nördlichen Makedonien verbessern zu wollen. »Diese Hände, sie werden alle stolz machen«, erklärte er, während er mit einer Stecknadel Löcher in seine Blasen stach. »Óch«, stöhnte er und schüttelte die Hand. »Tut schön weh. Óch , óch .«
Auf dem Schreibtisch lag Kümmerly und Freys Großer Europa Autoatlas . Manolis hatte Jannis das Kartenwerk mit dem gelben Umschlag ausgeliehen, damit er nachschlagen konnte, wo er sich befand. (Die kurze Antwort lautete: auf der Grenze zwischen B2 und B3 auf Seite 50. Bromölla lag – ohne Alma Mater – mitten in B5.) Jetzt blätterte er zu den Seiten 144–145 vor. Damit sie nicht verschlugen, stellte er zwei Flaschen auf die oberen Ecken, Terpentin beziehungsweise Öl, auf den unteren Rand legte er seinen Leinenband. Anschließend erklärte er feierlich: »Ihr spart Spucke? Né? Ja? Phantastisch. Hier.« Er zeichnete einen Kreis. »Hier Ziege befindet sich jetzt. Am Nullpunkt.«
AUF DEN ERSTEN BLICK . Einige Tage später fiel die Temperatur auf minus zehn Grad. Es war noch früh, als Jannis die neuen Gummistiefel mit geriffelten Sohlen anzog, die Hosenbeine in den Schaft zwängte und die Gartenhandschuhe in die Schifferjacke stopfte, die ebenfalls von Doktor Florinos stammte. In der Garage fand er eine Schaufel und zwei Gegenstände, denen wir in Kürze unsere Aufmerksamkeit schenken wollen. Letztere hängte er sich übrigens um den Hals. In der Küche füllte er seine Taschen mit Proviant, dann zog er die Schirmmütze tiefer und schlich sich hinaus. Auf der Kappe stand in orangen Druckbuchstaben: GULF .
In der nächsten halben Stunde schaufelte er von der Rückseite des Hauses bis zum See einen Weg frei. Er arbeitete ruhig und methodisch, mit einem muskulösen Schwung in den Bewegungen. Als er den Bootssteg erreichte, bürstete er den Schnee fort, der sich auf den Schlitten der Familie gelegt hatte, setzte sich und atmete tief durch. Mit jeder Faser seines Körpers wusste er, dies war der richtige Moment. Er schob die Mütze auf seinem dampfenden Kopf hoch, er holte die Nusshörnchen mit Rosinen heraus. Mit jedem Bissen spürte er, wie sich sein Herz weitete und immer mehr von der brennenden Mischung aus Jubel und Milchsäure hineinließ. Nie zuvor hatte er eine solche Perfektion gesehen. Weiß und jungfräulich breitete sich vor seinen Augen der Rövaren aus, Kilometer auf Kilometer daunenweicher Pracht. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sich das Wasser unter der zehn Zentimeter dicken Schneeschicht und der sicherlich doppelt so dicken Eisdecke bewegte. Aber dort unten schwammen die Barsche in Wolljacken, die ihnen ihre Mütter gestrickt hatten. Behaupteten Florinos’ Söhne.
Nach dem Schneeschaufeln am Tag nach seiner Ankunft hatten die Kinder ihn mit hinausgenommen. Jannis rutschte vorwärts, während Anton und Theo auf glänzenden Kufen kreuz und quer fuhren. Hier und da knackte das Eis, aber der Ältere versicherte ihm, dies sei nicht gefährlich. Das Eis werde nur dicker. »Von unten!«, rief der Jüngere, ehe er die Füße schräg stellte und eine Wolke aus Schneekristallen auf den Griechen
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