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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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füllte, konnte er darin von morgens bis abends das Vieh hüten.
    Biomechanisch äußerte sich die Fehlfunktion so, dass Jannis seine Füße mit einem leichten, aber plumpen Klatschen aufsetzte. Für Uneingeweihte sah das aus, als wäre er froh, sie wegstellen zu können. Wenn er später im Leben einem Binnensee entstieg und über einen frisch angelegten Zementweg lief, hinterließ er keine kurvigen Abdrücke wie andere Menschen, wässrige Gebilde, die etwas zugleich Zeitloses und Zerbrechliches an sich haben, sondern rechteckige Formen, die von einer sanften Kurve aus fünf immer kleineren Ovalen gekrönt wurden. Betrachtete er diese Spuren, empfand er stets eine hohe Konzentration aus Lust und Schmerz. Denn er entsann sich der Steine, auf denen er und Efi gehüpft waren, als sie eines Nachmittags den Potamiá in jenem Teil der Vergangenheit überquerten, der noch nicht abgeschlossen war.
    Die linke Hand (manus sinister). Als Jannis vier war, gab seine Mutter ihm einen Stock. Vasso hatte ihn benutzt, um damit im Herdfeuer zu stochern – bis er verkohlt war und durch einen neuen ersetzt werden musste. Instinktiv griff er mit seiner linken Hand danach. Die Mutter schlug zu und hielt ihm den Stock noch einmal hin. Erneut griff Jannis mit der linken Hand danach, und erneut versetzte seine Mutter dieser einen Schlag. Erst beim fünften Versuch nahm er den Gegenstand mit der anderen Hand. Der Stock war dick, die Hand wurde rußig. Es war das erste Beispiel für einen bedingten Reflex in Jannis’ Leben. Weitere sollten folgen – zum Beispiel drei Jahre später, als sich die Szene im Nachbardorf in ähnlicher Form wiederholte.
    Für die Dauer eines halben Jahres, bis zu dem Besuch der fliehenden Partisanen, beförderte der Vater seinen Sohn auf dem Gepäckträger. Er benutzte immer noch das alte Enfield-Rad, mit dem er und Despina Smyrna verlassen hatten. Sie brauchten eine halbe Stunde bis Neochóri. Während dieser Monate in der Schule benutzte der Lehrer, ein gewisser Lazaros Nehemas mit Errol Flynn-Bärtchen und tätowiertem Unterarm, ein Lineal, um den neuen Schüler davon zu überzeugen, die Kreide in der richtigen Hand zu halten. Die richtige Hand war immer die rechte Hand. Zwar glaubte Nehemas nicht, dass linkshändige Kinder vom Teufel gezeugt worden waren. Das Erbe der Aufklärung wurde auch im Lehrerseminar von Larissa in Ehren gehalten, wo er ein Jahr zuvor sein Examen gemacht hatte. Aber er hegte den nicht sonderlich progressiven Verdacht, dass Linkshänder unnatürlich verzagt waren. Außer Jannis gab es nur noch ein anderes linkshändiges Kind in der Klasse. Es war der Sohn der Wäscherin, Dimitris Lekkas, der mit seiner Mutter allein lebte und, wenn man genau hinsah, tatsächlich ein bisschen die Hüften schwang. Laut Nehemas, der Truman bewunderte und sich als Demokrat betrachtete, musste die Verweichlichung bereits in einem frühen Stadium der kindlichen Entwicklung bekämpft werden, was nicht ohne das Zufügen von Schmerz, aber stets aus Fürsorglichkeit geschah. Im Unterschied zu Lekkas zeigte Jannis keinerlei Anzeichen einer unmännlichen Haltung oder unmotivierten Errötens. Der Junge sah jedoch immer nur stumm zu, wenn sein Banknachbar von der Tafel abmalte, was der Lehrer gezeichnet hatte. Wenige Wochen später war er plötzlich verschwunden und kehrte erst nach der Tabakernte zurück. Trotzdem war Nehemas sicher, sein Eingreifen würde zur Folge haben, dass der Junge fortan die rechte Hand benutzte, um sich die Zähne zu putzen − vorausgesetzt, sie hatten Zahnbürsten in Áno Potamiá, was er eher bezweifelte. Denn mittlerweile hielt der Junge die Kreide in der rechten Hand.
    Natürlich hatten sie Zahnbürsten in Áno Potamiá. Auch Jannis. Genauer gesagt, eine von seinem Vater. Wenn er sich als Erwachsener die Zähne putzte, dachte er folglich zuerst an Nehemas und dann an die Fahrt nach Neochóri. Aber vor allem daran, wie sehr es ihm gefallen hatte, noch schlaftrunken die Arme um seinen Vater zu schlingen. Wenn er seinen Chlorodont-riechenden Mund gegen dessen Rückgrat presste – ein kleiner, tragbarer Eiswind –, spürte er den Körper unter dem Jackett in die Pedale treten, während sein Vater leise eines jener unverständlichen Lieder sang, die er als Kind gelernt hatte.
    An dieser Stelle müssen wir eine Eigentümlichkeit erwähnen. Neurologen zufolge können sich Linkshänder unter Wasser schneller orientieren als Rechtshänder. Das Talent wird mit der Querverknüpfung des Gehirns

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