Der letzte Grieche
die Hose war klatschnass. »Du kannst das Wort ja nachschlagen, wenn du mir nicht glaubst. Ein Ausländer kommt aus dem Ausland. Vielleicht deshalb. Jedenfalls gibt es kein Außenland. Nicht einmal der Nordpol zählt, obwohl der ganz aus Außenseite besteht.« Das Kind schälte sich aus seiner Hose. »Weißt du was? Papa sagt, dass jeder Mensch außen aus zwei Quadratmetern Haut besteht.« Jannis erinnerte sich an einen wuchtigen Baumstamm und vermisste ihn plötzlich schmerzlich. »Wenn das so ist, alle Menschen vielleicht nicht sind Ausländer«, sagte er, während er die steifen Finger des Jungen rieb. »Aber alle Menschen sind Außenländer …« Seine Stimme war vor Sehnsucht tonlos geworden.
EINIGE STELLEN MIT EINEM HOHEN GEHALT AN LUST UND SCHMERZ . Mit der Sehnsucht verhält es sich so: Damit sie entsteht, muss man etwas vermissen, und damit man etwas vermisst, bedarf es eines Verlusts – ob er nun wirklich ist oder eingebildet. Der Verlust muss mit den Augen anderer gemessen nicht groß sein, entscheidend ist, was der sich Sehnende aus ihm macht. Ein Sandhaufen kann zu einem Berg werden, eine Ziege für eine verlorene Zivilisation stehen. Wenn man bedenkt, dass der Ozean, dem die Menschheit entstieg – behaart, einfältig, beharrlich –, Millionen Jahre, nachdem die Reptilien sich den Schleim aus den Augen gewischt und sich in Säugetiere mit Zahnschmerzen und Fell verwandelt hatten, wenn man bedenkt, dass diese Ursuppe die gleiche Temperatur hatte wie unsere Körper heute und dass der Salz- und Phosphatgehalt immer noch der gleiche ist, dann ist die Evolution nicht nur eine Entwicklung zu sich stetig verfeinernden und verzweigenden Lebensformen, sondern auch ein riesiger Gedächtnisapparat. Jeder einzelne Schritt in der Evolution bedeutet einen Verlust, er wird getragen und gepflegt, auch wenn die Menschheit nichts davon wissen will. Aus jedem Blütenblatt, Nervenfaden und Wundschorf spricht Sehnsucht. Aus jeder Obstschale, jedem Schnurrhaar und Hühnerauge spricht Sehnsucht. Sogar aus der Gänsehaut spricht Sehnsucht.
Dachte Jannis. Denken wir uns. Denn auch unser Held, der Áno Potamiá verließ, weil er zu viel vermisste, was er nie gehabt hatte, war ein solcher Gedächtnisapparat. Bei näherem Hinsehen gehörten zu seinem Körper fünf, sechs Stellen, an denen der Lust- und Schmerzgehalt besonders hoch war. Wir wollen sie hier aufzeichnen. Es wird Zeit, die Voraussetzungen für das zu beschreiben, was später die »Disziplin des Abschieds« genannt werden sollte.
Die Fußsohlen (plantae pedis). Jannis’ Füße sahen nicht aus wie die anderer Menschen, ihnen fehlte das Gewölbe. Will sagen: Er hatte Plattfüße. Das war nicht von Geburt an so. Wie die meisten Kinder hatte auch er fein geäderte und gewölbte Füßchen, als er mit einem Jahr über den Erdfußboden krabbelte oder im Bett der Eltern in den Schlaf gewiegt wurde. Der Vater kitzelte die Gewölbe mit seinem Schnurrbart, wenn der Kleine um drei Uhr nachts die Füße gegen sein Gesicht presste. Seine Mutter liebte es, sie zu küssen, wenn sie um fünf die Windeln wechselte. Und das Kind selbst kaute gedankenversunken auf den Zehen herum, während seine Eltern das Erforderliche taten, um wieder einzuschlafen.
Als Jannis zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben im Freien spielte, sah jedoch ein Arzt – ein umherziehender Bulgare –, dass sich eine Dysfunktion herausbildete. Sie betraf jene Sehne, die tibialis posterior genannt wird. Wenn der Dreijährige die Füße belastete, wurde der Mittelfußknochen angehoben und der Vorderfuß nach außen gedrückt. Um die Anomalie zu kompensieren, wurde der hintere Teil des Fußes in die andere Richtung gezwungen, was die Belastung erhöhte. Weil Jannis mit einer verkürzten Achillessehne geboren war – ein spätes Erbe von Erol Bulut; nicht das einzige –, verschlimmerte sich die Situation. Immer öfter klagte er über Schmerzen, aber seine Eltern schenkten der Sache keine Beachtung. Ähnlich wie andere Erwachsene waren sie überzeugt, der Schmerz rühre daher, dass sie kein Geld hatten, um Schuhe zu kaufen. Es sollten noch ein paar Jahre vergehen, bis das Kind die Fußbekleidung seines Vaters erben konnte. Von April bis Oktober lief der Junge deshalb barfuß herum. Die restliche Zeit des Jahres wickelte seine Mutter die Füße in Stofffetzen, und wenn es richtig kalt wurde, durfte er sich die alten tsaroúchia seines Vaters leihen. Wenn man die lederverkleideten Holzschuhe mit Papier
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