Der letzte Grieche
erklärt, auf Grund deren die rechte Hälfte, die das räumliche Denken steuert, in direkter Verbindung zur linken Hand steht. Wie es um Jannis’ räumliches Denken unter Wasser bestellt ist, werden wir später sehen. Schon jetzt können wir jedoch festhalten, dass an seiner Anpassungsfähigkeit nichts auszusetzen war.
Die rechte Handfläche (palma manus dexter). Jannis’ Handflächen waren weder ungewöhnlich noch eigenartig, bloß einmalig. Als er acht war, bat Vasso ihn, zu Frau Poulias zu gehen. Sie hatte der Schneiderin, die für sie eine Art Ersatzmutter war, die alten Kleider ihres Mannes gegeben. Die schwarzen Stoffe sollten für sie umgenäht, die restlichen Kleidungsstücke für den Sohn geändert werden. Als Jannis Milch und Mandeln überreicht hatte, wusste er nicht mehr weiter. Es fiel ihm schwer, Frau Poulias jiajiá zu nennen. Ihre Augen waren zwar ungewöhnlich schön, aber auf einem Ohr saß andererseits eine Warze, aus der Haare wuchsen. Außerdem war sie so klein und knöchern, dass sie ihm irgendwie unwirklich vorkam. Nichts an ihr erinnerte ihn an seine Mutter. »Komm her, mátia mou . Lass mich deinen Mandelzweig sehen.«
Im nächsten Moment lag sein Ellbogen auf den Stoffen und die linke Hand in den kühlen Händen der Schneiderin. Sie roch nach Joghurt und Sandelholz. »Hab keine Angst. Ich habe an vielen Engeln Maß genommen, warum sollte ich es bei dir nicht können?« Als sie seine Finger gerade bog, begriff er, dass sie die Schicksalslinie meinte. Ab und zu murmelte sie etwas Unverständliches, einmal spuckte sie über die Schulter, ansonsten war sie still wie Schnee. Auch Jannis war still. Schließlich wurde er jedoch unruhig – und ungeduldig: unruhig, weil er sich sorgte, mit seiner Hand könnte etwas nicht stimmen, ungeduldig aus einem der zahllosen Gründe, aus denen Achtjährige nie mehr als eine Minute am Stück stillstehen konnten. » Pféh … Dein Zweig ist krummer als bei anderen. Und eines Tages wird er abgebrochen werden.« Die Wahrsagerin spannte die Handfläche, damit sie mit dem Fingernagel die weinrote Furche entlangfahren konnte. »Sieh mal hier. Schwer zu sagen, ob die Linie weitergeht oder von vorn anfängt. Aber du wirst schon merken, was von beidem passiert.« »Und wann merke ich das?« Der Junge fühlte sich nicht recht wohl in seiner Haut. »Auf der anderen Seite.« »Auf der anderen Seite von was ?« Die Frau sah ihn immer noch an – streng, ruhig, fast feierlich. »Des Lebens? Des Unfalls? Ich weiß es nicht, palikári mou . Aber irgendetwas muss es wohl sein.« Der Junge wand sich unruhig. »Hast du deshalb ausgespuckt, Tante?« Frau Poulias vermied es, ihm zu antworten, aber da sie nicht lächelte, nahm er an, dass sie es ernst meinte. »Richte deiner Mutter aus, dass ich mit ihr sprechen will, ehe es zu spät ist.«
Später sollte Jannis seinen Freunden in Neochóri von der Schneiderin erzählen. Das muss an einem Tag im Sommer 1952 gewesen sein. Efi hatte noch nicht angefangen, sich die Beine zu wachsen, was sie nach ihrer ersten Operation im gleichen Jahr tun würde, und Kostas, der zwei Jahre älter war, hatte sich in irgendeine antike Sage vertieft, die er in den illustrierten Heften las, die der Apotheker jeden Freitag bekam. Die Hand schützend gegen die Sonne gehoben, blickte er von seiner Zeitschrift auf: »Mandelzweig?«
Efi nahm die Finger des Freundes und bog sie gerade. Seine weinrote Linie war ungewöhnlich kompliziert. Kaum war sie aus der Falte zwischen pollex und index entsprungen, als sie sich auch schon abwärts zu der Schwellung bog, die es dem Daumen erlaubt, mit den übrigen Fingern zu interagieren ( tenar im Vokabular von Doktor Florinos, der »Venushügel« den Chiromantikern zufolge). Daraufhin begann sie, sich wahllos zu verzweigen, und es wurde geradezu unmöglich zu sagen, was Zweig und was Auswuchs war. Kostas kontrollierte seine eigene Furche – die Linie war schön gewölbt und ungebrochen –, während Efi ernst wurde. Über die Handfläche ihres Freunds gebeugt, dachte sie nach. Am Ende stöhnte sie gereizt. »Ich weiß nicht. Es sieht aus, als ginge die Linie hier weiter. Oder ist das vielleicht auch ein Auswuchs?« Ihr Blick ging von Jannis zu ihrem Bruder und kehrte wieder zu Jannis zurück. Dann wurde es ihr schlagartig klar: » Panajía mou , wo habe ich bloß meinen Kopf? Du magst vielleicht als Linkshänder geboren worden sein, aber mittlerweile schreibst du doch mit rechts!«
Während Kostas hinter seinem Comic
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