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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Ölfässern. Eleni hingegen fühlte sich einfach nur krank. Mit jeder Rauchwolke, die dem Schornstein entwich, wurde sie eine Welle, einen Atemzug weiter von ihren Toten fortgetragen.
    Die Verwandten wohnten in einem der neuen Wohnviertel, die am Stadtrand aus dem Boden gestampft wurden. Sie waren Elenis Mann zwar nie begegnet, er hätte ebenso gut mit den aus Georgien geflohenen Nachbarn verwandt sein können, aber man nahm sie auf. Fortan rührte Eleni mit der gleichen stoischen Traurigkeit Mörtel an, mit der sie auch Laken wusch und auf Kinder aufpasste. Sie säuberte alte Ziegelsteine, nähte und kochte. Auch wenn ihr dieses monotone Dasein gut tat, fühlte sie sich trotzdem fremd. Sie suchte Arbeit und bekam eine Stelle im Hauptpostamt. Schon bald widmete sie sich ganz der Aufgabe, Briefe zu sortieren, da ihr Ordnungssinn sogar den routinierterer Kollegen übertraf. Sie wollte es einfach nicht dulden, dass ein Schreiben verloren ging – so hoffnungslos unvollständig, so unleserlich die Adresse auch sein mochte. Einige Zeit später zog sie in eine garzoniéra in einem Neubau um, und da sie ansonsten nichts vorhatte, übernahm sie oft auch noch die Schichten ihrer Kollegen. Nachts holte sie zuweilen den Rückspiegel des Austin hervor. Schlaflos, aber hellsichtig starrte sie stundenlang hinein.
    Nach einer Weile wurde Eleni befördert und in jenem Jahr, in dem die schwarzgelb gekleideten Spieler des örtlichen Fußballvereins ihre legendäre Siegesserie antraten, in deren Folge der Club zum ersten Mal Meister wurde, ernannte man sie zur stellvertretenden Leiterin der Expedition für unzustellbare Post. Viele Abende blieb sie in ihrem Büro, weil sie es nicht übers Herz brachte, die Briefe mit den unbekannten Adressaten bis zum nächsten Tag unangerührt liegen zu lassen. Wenn dann die Morgenschicht mit ihrem Geruch nach Kaffee und Zigaretten in den Kleidern ausrückte, war sie mit schiefem Lächeln immer noch da. »Dieser Schwerenöter hier hat zu guter Letzt doch noch nach Hause gefunden«, sagte sie dann etwa und zeigte auf einen Brief, mit dem niemand etwas hatte anfangen können. Oder: »Es gibt in Ladadika keinen Moises Bourlas mehr. Aber ich habe so ein Gefühl, dass wir einen Treffer landen, wenn wir mal in Haifa nachhören. Könntest du heute Vormittag telegrafieren? Ich regle den Rest dann nach der Siesta.«
    So vergingen die Tage und die Nächte, wobei ihre Traurigkeit nicht nachließ. Erst als der Briefträger aus Neochóri die Expedition betrat, kam es zu einer spürbaren Veränderung. Die Sache sei die, erklärte der Mann und holte einen Brief aus der Innentasche seines Jacketts, dass er nun schon zum zweiten Mal den Auftrag bekommen habe, ein Schreiben an eine Person zuzustellen, die nicht existierte. Da es im Nachbardorf kein Postamt gab, der Empfang des Briefs jedoch persönlich quittiert werden musste, hatte man ihn an die Zweigstelle in Neochóri geschickt. Zwei Mal war der Mann daraufhin die sieben Kilometer nach Áno Potamiá gegangen und zwei Mal unverrichteter Dinge zurückgekehrt.
    Wenn seine Augen nicht gewesen wären, hätte es damit gut sein können. Aber Eleni erkannte die Leere in ihnen. Sie studierte seine Hände, als er an dem Dokument nestelte, sie betrachtete seine Schultern, die verkümmerten Flügeln glichen, und begriff, dass auch er an Dieser Jämmerlichen Sache litt. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, lächelte sie und legte das Schreiben in eine Mappe. Anschließend fügte sie etwas hinzu, was sogar sie selbst überraschte: »Sie haben doch sicher noch nichts gegessen, Herr Kezdoglou. Die Rückfahrt ist lang. Sollen wir in die Taverne auf der anderen Straßenseite gehen? Das Dillfleisch dort ist fast so gut wie in Smyrna.«
    Während der Mahlzeit bestätigte sich ihr Verdacht. Konstantinos Kezdoglou, stolzer Vater von vier Kindern, hatte kürzlich seine Frau verloren, die an Diphterie gestorben war. Seine Gattin stammte aus Thessaloniki und weil der Notar auf vollständigen Papieren bestand, ehe er den Erbanspruch der Frau auf den Witwer übertragen konnte, hatte dieser den Bus in die Stadt genommen, um die Unterlagen zu besorgen. Etwas an der Art des Briefträgers ließ Eleni von ihrer Flucht erzählen – zum ersten Mal seit fünf Jahren. Nicht einmal ihre Verwandten hatten mehr als Bruchstücke erfahren, die sie selbst zusammenfügen mussten. Als sie zu sprechen begann, merkte sie, dass es ihr schwer fiel, wieder aufzuhören. Der Briefträger hörte ihr mit einem so

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