Der letzte Grieche
in der Fabrik. Die Bedingungen waren kürzlich geändert worden, und er benötigte zunächst eine Arbeitserlaubnis. Der Vorarbeiter, der sehr gewissenhaft war, wollte keinen Ärger mit den Behörden riskieren. Eine Woche lang trug Jannis stattdessen in der näheren Umgebung Zeitungen aus, aber nach der Beschwerde mehrer Abonnenten erklärte sein Ansprechpartner, man werde die Austeilung anderweitig regeln. Als Jari Salonen – der im Mietshaus der Geschwister im Erdgeschoss wohnte und die einzige Fahrschule in Bromölla betrieb – erkannte, dass der bisher letzte Ausländer des Orts weder Straßenschilder lesen konnte, noch wusste, wie ein Motor funktionierte, gab er ihm kostenlos ein paar Fahrstunden. Mehr konnte er jedoch nicht für ihn tun. Einige arbeitslose Wochen später packte Jannis seinen Koffer. Seine Freunde hatten getan, was sie konnten, und er war zu stolz, um ihnen noch länger zur Last zu fallen. Es wurde Zeit, eigenes Geld zu verdienen. Kostas fragte, wo er denn hin wolle, während Efi, die kein Auge zugemacht zu haben schien, von jenem Landsmann erzählte, der in Kristianstad im Krankenhaus arbeitete. »Wenn Doktor Florinos dir nicht helfen kann, dann kann es keiner.« Sie steckte ihm einen Geldschein in die Tasche und erklärte ihm, was zu tun sei. »Und wenn du die Arbeitserlaubnis dann hast, brauchst du nur noch Waschbecken zu polieren!«
Jetzt löschte Kostas seine Zigarette, indem er sie über den Rand des Aschenbechers rollen ließ. Er betrachtete seinen Freund zugleich mit Wärme und Distanz. »Die Mechanik des Wassers dürfte kein Problem sein.« Ein letzter Rauchfaden verließ seinen Mund. »Dazu muss man nur den Regen studieren. Von Sport habe ich keine Ahnung, obwohl das mit Sicherheit an irgendeiner Volkshochschule unterrichtet wird. Aber Geschichte …« Er hustete. »Was genau stellst du dir vor? Antike Geschichte, Geologiegeschichte, schwedische Geschichte?«
Jannis stocherte in dem Kuchenstück, das nicht einmal entfernt an die Torte erinnerte, die Lily Florinos gebacken hatte. »Du solltest besser als alle anderen wissen, was wir Griechen geleistet haben«, murrte er und erinnerte den Freund an das in der Schule Gelernte. »Wir haben Städte und Paläste erbaut, die Götter, die Geometrie und die Olympischen Spiele erfunden. Wir sind neben den Juden und den Armeniern eines der ältesten Völker der Welt. Ich weiß nicht, wie es mit den Schweden ist, aber ich denke, ihr Hämoglobin ist etwas jünger. Wir haben über große Gebiete und eine Vielzahl von Völkern geherrscht. Laut Magister Nehemas sind wir sogar in Afrika gewesen. Jeder kolópedo weiß, dass der Nabel der Welt in Delphi liegt. Ohne uns würde es weder eine Akademie noch ein Amt für Hydrologie geben.« Die Wangengrübchen kamen zum Vorschein. »Denk an Sokrates und Solonos, denk an kapetán Aris und Lambrakis. Menschen wie sie haben uns in Zeiten gerettet, in denen die Osmanen uns zu Osmanen, die Deutschen zu Deutschen und viele andere zu vielem anderen machen wollten. Denk an die Bouzouki und die Bürokratie. Das sind nur einige von unseren Erfindungen. Und trotzdem. Trotz einer dreitausendjährigen Geschichte entleeren wir unsere Därme dort, wo nur das Vieh es tun sollte. Kannst du mir bitte erklären, warum?«
Kostas hatte die Schule mit den besten Noten abgeschlossen, vier Jahre in Folge in Neochóri den Lyrikpreis gewonnen, zuletzt mit einer »Elegie in Dur«, und im Postamt gearbeitet. Er hatte zwei Jahre beim Militär verbracht und ein weiteres halbes Jahr im Gefängnis, als herauskam, dass er während eines Heimaturlaubs an einer Friedensdemonstration in Thessaloniki teilgenommen hatte, bei der Gregoris Lambrakis von Rechtsextremisten angefahren wurde und fünf Tage später starb. Als man ihn schließlich entließ, hatte er heimlich jenes Z an die Wände des Dorfs gepinselt, das den Kampf für Frieden und Freiheit symbolisierte. Er hatte das Geld für die Fahrkarte nach Schweden als Hilfsarbeiter zusammengebracht, hatte in dem neuen Land gleichgesinnte Landsleute getroffen und inzwischen elf Fernkurse absolviert, unter anderem zwei in Geschichte (die schwedische Großmachtzeit und die Epoche der Nationalromantik). Er hatte in Griechenland ein Abschlusszeugnis bekommen und würde schon bald ein weiteres in Schweden erhalten. Kostas Kezdoglou war ein erfahrener Mann mit Zukunftsplänen. Die Antwort auf Jannis’ Frage blieb er trotzdem schuldig.
»Kannst du mir bitte erklären, warum der Schmerz wie mit
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