Der letzte Grieche
Messern in einem schneidet, wenn man eine zahnlose jiajiá in einem schwarzen Kleid, schwarzer Strickjacke, alles schwarz, zwischen den Hühnern fegen sieht, obwohl kein Mensch weiß, wozu das gut sein soll? Oder warum man mit allem außer den Augen weint, wenn sich eine Ziege unter einen Mandelbaum legt, statt an die Tür, wo sie sonst immer liegt, weil ihr Bauch voller Würmer ist und sie sich schämt? Kann mir vielleicht irgendwer erklären, warum jemand so dumm sein kann, sein einziges Hab und Gut zu verspielen, nur weil er wirklich nichts von dem zurücklassen will, was er niemals besaß? Ich glaube«, sagte Jannis und legte den Teelöffel weg, »ich glaube, Geschichte ist die Disziplin des Abschieds. Wenn du der Meinung bist, dass es wichtigere Dinge zu studieren gibt, musst du mir schon erklären, warum.«
Kostas wusste nach wie vor nicht, was er antworten sollte, war aber gegen seinen Willen gerührt. Die Disziplin des Abschieds? Er selbst hatte vor, seine Studien an der Universität fortzusetzen. Außerdem wollte er mit etwas fertig werden, was er nach diversen Fehlversuchen in der neuen Sprache zu schreiben beabsichtigte. Sein Buch sollte den Kampf zwischen Tugend und List im Lichte neuester sozialer Umwälzungen schildern. Obwohl er im Moment noch auf der Stelle trat, lag ihm die Zukunft zu Füßen. Sein Leben bestand nicht aus Abschied, sondern aus Willkommen. Jetzt hatte ihm sein Freund jedoch zu einer Idee verholfen, wie er weiterkommen konnte. Noch erschien sie ihm allerdings zu unausgereift, weshalb er sich an diesem Samstagnachmittag darauf beschränkte, zu antworten: »Als ich klein war, sagte meine Großmutter immer, die Erinnerung sei wie Wasser. Es laufe hierhin und dorthin und fülle jede Lücke im Dasein mit Bedeutung. Die Vergangenheit sei eine nie versiegende Quelle. Ich weiß nicht, wie du das siehst, Jannis, obwohl ich annehme, dass du der gleichen Meinung bist. Ich persönlich bevorzuge Bassins.« Kostas schnitt eine Grimasse. Er konnte einfach nicht anders: Wieder einmal hatte er einen Scherz über etwas gemacht, was er wirklich ernst nahm. Als er Efis Blick sah, ergänzte er deshalb: »Ach was, ich versuche nur zu sagen, dass du vielleicht … Sport studieren solltest?«
Seine Schwester stöhnte. Sie wurde von Überdruss, Zärtlichkeit, Scham, Sehnsucht übermannt. Den Grund für ihre Zärtlichkeit können wir uns erschließen. Der Überdruss und die Scham galten den untätigen Sonntagen und den ständig gleichen Handgriffen in der Fabrik, aber auch dem Mangel an Freunden und dem Bedürfnis ihres Bruders, immer alles besser zu wissen. Ihre Sehnsucht galt natürlich Jannis, der zwar an dem neuen Küchentisch aus Hochdrucklaminat saß, aber dennoch so weit weg war. »Sanitärporzellan«, sagte der Gast schließlich. »Hätte es in Áno Potamiá Sanitärporzellan gegeben, wäre ich niemals hergekommen.« Er sah sich erstaunt um, als wäre er eben erst aufgewacht. Dann mussten alle drei laut lachen.
EXKURS ÜBER CHILOPÍTES UND DEN NUTZEN VON ÖL. Die Gehilfinnen Clios, jetzt sind sie an der Reihe.
Solange Kostas zurückdenken konnte, hatte seine Stiefgroßmutter ihre Tage über die nicht ganz unbekannte Enzyklopädie über Auslandsgriechen gebeugt verbracht. Auf fünf Kontinente verteilt widmeten sich elf weitere Frauen derselben Sache. Sie waren die Gehilfinnen Clios. Wir kommen gleich auf sie zu sprechen. Die Idee zu ihrem Werk entstand in den ersten Jahren im Exil. Nach der Flucht aus Smyrna, wo Eleni Vembas den größten Teil ihrer Familie verloren hatte, traf sie in Thessaloniki ein, als 1923 in Lausanne ein Friedensvertrag geschlossen wurde und Griechenland und die Türkei anschließend Minderheiten austauchten. Hinter ihr lag eine lange Wanderung, auf der Frauen schon für fünfundzwanzig amerikanische Cents verkauft wurden und elternlose Kinder von einem Tag auf den anderen verschwanden – »einfach so, als hätte es sie nie gegeben«. Nachdem sie ihren Ehering verkauft hatte, ergatterte sie einen Platz auf einem Schiff nach Zypern, und nachdem sie sich selbst im Hafen von Famagusta verkauft hatte, gelang es ihr, an Bord eines Frachters zu kommen, der Rohöl in ein Heimatland transportierte, das sie bislang nicht kannte. In Thessaloniki, das nach dem Brand von 1917 gerade wieder aufgebaut wurde, wohnten entfernte Verwandte ihres Mannes. Als die Passagiere am nächsten Morgen den weißen Turm und die Baugerüste aus dem Dunst auftauchen sahen, tanzten sie zwischen den
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