Der letzte Grieche
diesem Augenblick möglich gewesen wäre, Kostas Kezdoglou mit Jannis’ Augen zu sehen, hätten wir einen Kopf erblickt, dem etwas Gewichtiges und schwer Zugängliches eigen war, als bestünde er aus unbekannten Mineralien oder komplizierten Rechenoperationen. Der Grund dafür war, dass er auf seinem Stuhl kippelte. Sein herablassender Blick wurde jedoch von den Augen aufgewogen. Braun und glänzend strahlten sie eine nicht unvorteilhafte Wärme aus. Die Ohren, die zwischen Locken hervorlugten, waren ungewöhnlich groß, das ließ sich nicht leugnen, und bogen sich außerdem nach vorn, wodurch der Eindruck entstand, dass er sich große Mühe gab zu lauschen, während die Nase wie die eines Adligen wirkte: groß und gerade. Die vollen Lippen hatte er von seiner Mutter Soula geerbt, und er fuhr gerne mit der Zunge darüber – vor allem, wenn er etwas sagen wollte. »Lass mich mal überlegen …« Er gab den Denker. »Ich kann mich nicht erinnern, dich am letzten Schultag gesehen zu haben. Aber ich war nach dem vielen Ouzo vielleicht schon ein bisschen weggetreten.« Das Stuhlbein schlug auf den Fußboden. »Wann willst du denn anfangen?«
Im Grunde meinte Kostas es gut. Wir wollen erklären, warum.
Ein halbes Jahr zuvor war ein Brief gekommen. Wie üblich schrieb die Großmutter verschnörkelte Buchstaben in der Manier alter Frauen. Und wie üblich erkundigte sie sich, wann die Geschwister heimkehren wollten, damit Efi heiraten und Kostas Nationaldichter werden konnte. Diesmal erzählte sie jedoch auch von dem Kameraden der beiden aus dem Nachbardorf. »Jannis Georgiadis hat uns kürzlich besucht. Ich habe ihn kaum wiedererkannt. Er ist ein schöner Grieche geworden, ein Prachtexemplar, und ist euch immer noch dankbar dafür, dass ihr ihm geholfen habt. Jetzt möchte er das Darlehen zurückzahlen. Aber mit welchem Geld?« Deswegen schrieb sie. »Jannis sagt, dass er den Wunsch hat, seine Familie stolz zu machen. Ich bin zu alt, um zu verstehen, warum das im Ausland geschehen muss. Aber ihr müsst ihm helfen, liebe Kinder. Es ist besser, er findet Arbeit, wo ihr seid, als sich dort zu verirren, wo ihn keiner kennt. Ich habe ihm mein Wort gegeben. Ihr wisst, was das bedeutet. Ein Kezdoglou hält, was er verspricht.«
Einige Wochen später gingen die Geschwister in der Mittagspause zum Bahnhof. »Noch mehr Bauern aus Makedonien, das hat den schwedischen Arbeitgebern gerade noch gefehlt …« Efi ärgerte sich über ihren Bruder. »Kannst du deine Meinung nicht für dich behalten, bis wir ihn getroffen haben? Du hast doch gesagt, er soll sich melden, wenn er Hilfe braucht.« Kostas ging schneller, er war trotz allem neugierig. Sie fanden ihren Freund auf einer Bank. Er war einen Zug früher angekommen als erwartet und schien in den Anblick seiner Armbanduhr versunken zu sein. Kezdoglou drehte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er richtig sah. Das tat er. Deshalb lachte er. »Tss, Jannis, wach auf. Der Jüngste Tag ist gekommen.« Als ihr Freund aufstand, sahen sie, dass er sich nicht verändert hatte. Da war die gleiche muskulöse Ruhe in seinen Bewegungen, da war der gleiche exakte Seitenscheitel. Da waren die gleichen schiefgetretenen Schuhe, der gleiche Rauch und die gleichen Hufschläge in der Stimme, als er sie begrüßte.
Sie gingen zu dem Restaurant neben der Feuerwache. Kostas setzte sich zu dem Neuankömmling. Während das Essen serviert wurde, rang Efi mit der Sonne, die darauf beharrte, in ihrem Inneren aufzugehen. Jannis mochte ein typischer Bauer aus Makedonien sein, wie ihr Bruder behauptete, dessen Hände von Spaten geformt waren und an dessen Füßen man den Neigungsgrad der Berge ablesen konnte. Aber jetzt war er weit weg von zu Hause, mit stolzen Zukunftsträumen im Herzen, und brauchte Hilfe. Ihre Hilfe. »Weißt du was?«, platzte sie heraus, während sie das Besteck gerade rückte. »In Schweden kommt man immer pünktlich! In den Geschäften verkaufen sie das Brot in Scheiben! Die Röcke sind hier so kurz!« Sie zeigte es ihm an sich selbst. »Man hält hier nie Siesta! Und alle ziehen im Flur die Schuhe aus!« »Kohlrübenpüree«, nickte Kostas blasiert in Richtung der Teller, die der Kellner abgestellt hatte. Sein Freund lächelte verwirrt zuerst den Bruder und dann die Schwester an. Als er die Gabel zum Mund führte, dachte er, dass er noch nie etwas so Widerwärtiges probiert hatte. »Im Flur?« Vergeblich versuchte er zu schlucken.
Trotz Kezdoglous Bemühungen fand Jannis keine Arbeit
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