Der letzte Kuss
Zeichen, fand er.
»Hey, kleiner Bruder. Du bist ja früh auf.« Chase kam in den Hauptraum des Büros. »Was machst du hier? Sind bei Muttern die Schokoflakes alle?«
Roman zuckte die Schultern. »Wie soll ich das wissen?« Er war gar nicht lange genug zuhause gewesen, um zu frühstücken. Nachdenklich blickte er seinen ältesten Bruder an. »Weißt du was, mir ist gerade aufgefallen, dass wir, seit ich zurück bin, immer nur über mich sprechen. Wie sieht es denn bei dir zur Zeit aus?«
Chase winkte ab. »Immer dasselbe.«
»Irgendwelche neuen Frauen?« Roman hatte seinen Bruder mit niemand Speziellem zusammen gesehen.
Chase schüttelte den Kopf.
»Mit wem triffst du sich denn so? Was tust du gegen die Einsamkeit?«, fragte Roman. Er meinte damit nicht nur Sex. Derartige Informationen gaben die Brüder niemals preis. Chase wusste, was Roman meinte. Beide hatten sie diese verdammte Einsamkeit erfahren, die sie sich selbst gewählt hatten. Charlotte hatte ihr für Roman ein Ende gesetzt.
Mit einem Achselzucken sagte Chase: »Wenn ich Gesellschaft brauche, habe ich ein paar Freunde in Harrington. Yorkshire Falls ist so klein, dass gleich alle wissen, wenn man ein Verhältnis hat. Mir fehlt es nicht an Gesellschaft. Jetzt aber wieder zu dir.«
Roman lachte. Chase konnte ein Gespräch über sich selber niemals länger ertragen. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir erzählte, dass die Washington Post mir einen Redaktionsposten angeboten hat?«, fragte er seinen ältesten Bruder.
Chase kam auf Socken durch den Raum – keine Schuhe, einer der Vorteile, im Bürogebäude zu wohnen – und gesellte sich in der kleinen Küche zu Roman, goss sich Kaffee ein und hob den Becher hoch. »Danke, übrigens.«
Roman lehnte am Kühlschrank. »Kein Problem.«
»Ich würde sagen, nimm nicht wegen der Münzwette einen Schreibtischjob an.«
Roman fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich kann nicht so tun, als hätte es sie nicht gegeben.« Die Ironie war, dass Roman jetzt dankbar war, dass er die Wette verloren hatte, sogar glücklich, dass er gezwungen war, in der Nähe von Yorkshire Falls zu bleiben und eine Heirat ins Auge zu fassen. Die Ironie des Schicksals hatte zu einer zweiten Chance mit Charlotte geführt, mit der Frau, die er liebte.
Mit der Frau, die er immer geliebt hatte.
»Diese Münzwette ist der Grund dafür, dass sich mein ganzes Leben ändern wird.« Er schüttelte den Kopf. Das hatte er nicht richtig ausgedrückt. Tatsächlich hatte die Münzwette nur den Anstoß dazu gegeben, ein neues Leben zu beginnen. Der wahre Grund, warum er Charlotte heiraten wollte, war Liebe, nicht familiäre Verpflichtung.
»Heirat ist ein gewaltiger Schritt. Ein Baby genauso. Ich weiß, wie sehr sich unsere Mutter Enkelkinder wünscht, aber du musst zugeben, dass sie sich etwas beruhigt hat, seit Eric da ist.«
»Das liegt daran, dass er sie so sehr mit Beschlag belegt, dass sie sich gar nicht mehr um uns kümmern kann. Aber vertraue mir, der sie jeden Morgen zu Gesicht bekommt: Sie hat nicht vergessen, dass sie Enkelkinder haben will, und sie schluckt immer noch Tabletten«, erwiderte Roman. Obwohl er manchmal beobachtete, dass sie aktiver wirkte, wenn sie ihn nicht in der Nähe glaubte, hielt er das doch nur für eine Einbildung seinerseits. »Wenn du mich fragst, so hat sich in der Angelegenheit nichts geändert.« Aber seine Gefühle den Bedürfnissen seiner Mutter gegenüber hatten sich geändert.
»Trotzdem sage ich immer noch, vergewissere dich, ob du mit deinen Entscheidungen leben kannst.« Chase hielt kurz inne für einen Schluck Kaffee. »Rick und ich werden es verstehen, wenn du nicht das Opferlamm sein willst bei Mutters Streben nach Enkelkindern, nur, weil du die Münzwette verloren hast. Du kannst immer noch aus dem Geschäft aussteigen.«
Diese Worte klangen so, wie Roman sie vor kurzem noch selbst formuliert hatte. Aber die Dinge hatten sich geändert, seit er erschöpft aus London heimgekehrt war.
Bis vor kurzem hatte er sich nicht die Zeit genommen, seine Handlungen während seines kurzen Aufenthalts zuhause
auf ihre Hintergründe zu überprüfen. Mit dem Jetlag in den Knochen war ihm nur klar geworden, dass seine Familie ein Bedürfnis hatte und dass es an ihm war, es zu erfüllen. Die Sache hatte sich gewandelt, als sich herausstellte, dass Charlotte in der Stadt war. Und er fragte sich, wie er Chase seinen Sinneswandel erklären sollte, dem Bruder, der sein Alleinsein und seinen
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