Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
gelockten Schmutzsträhnen verhangen.
Das Schaf sah sich nach ihr um. Wieder presste es und stöhnte dabei, so dass Lies beinahe das Herz stehen blieb. Manchmal muss man helfen . Jóis Stimme kam ihr in den Sinn. Manchmal muss man helfen. Und bitte wie?? Was?? Warum war Jói nicht hier?
Sie sah sich um. Auf der Kiste an der Wand stand ein Karton mit allerlei Kram, vielleicht war etwas Brauchbares dabei. Eine Schere, ein Messer, allerlei Töpfchen und verschmutzte Tiegel mit Medikamenten unbekannten Alters und ein Topf Vaseline. Sie hatte bei Elías einmal gesehen, wie der sich die Hand damit eingeschmiert und dem Schaf hinten reingefasst hatte, und sie hatte sich furchtbar davor geekelt. Offenbar war jedoch nun sie an der Reihe, denn dieses Tier brauchte Hilfe. Ekel hatte keinen Platz. Während sie den Tiegel aufschraubte und mit spitzem Finger Vaseline herausangelte, sehnte sie sich kurz nach ihrem Schreibtisch im Finanzamt zurück. Aber nur ganz kurz.
Die Sauberkeit, die Ordnung der Kugelschreiber und der Stempel. Die trockene, eintönige Luft. Der gedämpfte Geräuschpegel. Die Tüte Lakritz in der Schublade.
Packbiers Nörgelstimme im Nebenraum.
» Helvíti. Heeeelvíti .« Vor der beschworenen Hölle verschwand sogar Packbier. Entschlossen schmierte sie die Hand mit Vaseline ein und hielt sie wie eine Waffe vor sich hin. » Heeelvíti!« Scheiß auf Packbier. Das hier war echt.
Das Schaf lag da und sah sie an. Immer wieder leckte die Zunge über das feine Maul, stoßweise kam der Atem, das ganze Schaf wankte nur vom Atmen. Hier ging es um etwas. Lies biss sich auf die Lippen. Festbinden oder nicht? Da sie keine zündende Idee hatte, wie sie das Schaf festbinden sollte, hoffte sie auf seine Kooperation und näherte sich dem Hinterteil.
»Man sollte eine wöchentliche Dusche für euch einführen, das stinkt ja erbärmlich«, fluchte sie leise und schob die Haare zur Seite. Es stank nach Kot und feuchtem Fell, Schmiere und Schleim hingen dort, wo das Lamm herauskommen sollte, und die ganze Region war geschwollen und rot. Eine kleine Klaue schaute heraus. Sie wurde mit den Wehen vorgeschoben und sank zurück, vor und zurück. Vor, zurück. Das Lamm steckte fest.
Lies schluckte. Sie wusste, das hier war nichts für sie. Sie musste Elías wecken.
Elías wecken. Ob das so schlau war?
Vorsichtig fühlte sie an der Klaue. Wo eine war, musste auch eine zweite sein. Ob die drinnen festsaß? »Verfluchter Mist«, murmelte sie, »ich muss Elías wecken. Was soll ich denn hier machen...«
Das Schaf blökte leise und gequält. Der Schmerz des Tieres stand wie eine Wand vor ihr – nicht weggehen. Tu was. Und dann fühlte es sich so an, als lege ihr jemand die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich um. Niemand da. Doch die stickige Luft um sie herum wurde klarer, sie konnte sehen, was nötig war. Und Lies fand den Mut, ganz vorsichtig mit dem Finger in die Scheide des Schafs zu fahren, sie staunte, wie breit der Eingang war und nahm sorgsam einen Finger nach dem anderen mit, bis die ganze Hand drinsteckte. Dann war der Ekel verschwunden, Lies roch nichts mehr von Kot und Ammoniak, sie nahm nichts mehr um sich herum wahr, sie schloss die Augen, lag auf den Knien im Mist, den Kopf in die Schafwolle gedrückt und fühlte... fühlte Wärme... Schleim... Muskel... Körperteile, ertastete, befühlte … das Beinchen, ein Kopf, der nach vorne wollte und festhing, eine feine Kehle, das zierliche Maul – der Kopf war nach oben weggeklappt, und einen zweiten Fuß fand sie nicht...
Lies rutschte noch dichter an das Schaf heran. Dass es Kot am Hinterteil hängen hatte, spielte keine Rolle mehr. Sie presste den Kopf gegen die langen, verfilzten Haare. Es grunzte unter einer Wehe, die Lies’ Hand fast mit hinausdrückte, und sie fluchte leise. Noch einmal. Wenn das Lamm schief hing, musste es gerade gemacht werden, war doch eigentlich ganz einfach. Und so drückte sie das Tierchen mit aller Kraft zurück, nahm mit zwei Fingern das Köpfchen nach unten und suchte fieberhaft nach dem zweiten Bein, bevor die nächste Wehe herangewogt kam. Ihre Finger glitschten an dem schmalen Körper vorbei, sie fühlte, wie der Geburtskanal erneut schwoll – da war das Bein! Unter den Bauch geklappt! Hastig zupfte sie mit Daumen und Zeigefinger, steckte den Finger hinter das Beinchen, fischte es hervor und ließ sich mit der heranrauschenden Wehe nach draußen treiben. Schwer atmend sank sie zusammen. Der Rücken schmerzte von der ungewohnten
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