Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
ein paar Strümpfe gelangten auf unerklärliche Weise in das stets leere Gemüsefach.
Es hatte sich so eingebürgert, dass er kochte und sie einen Großteil der Stallarbeit verrichtete – ohne dass sie darüber geredet hatten. Lies war das ganz recht, sie befürchtete, es ihm doch nicht recht machen zu können. Alte Leute waren so schwierig, was Essen anging, das wusste sie von Oma.
Doch was er auf dem Herd für sie beide zusammenrührte, schmeckte bisweilen wunderlich und wurde von Tag zu Tag exotischer. Er goss Ahornsirup an den Braten, und bestrich sein Fleischstück mit Marmelade. Mal war das Fleisch, das er alle paar Tage aus der Kühltruhe holte, nach dem Zubereiten zäh wie Sohlenleder, mal innen blutig. Sie erinnerte sich, dass das in den ersten Wochen nicht so gewesen war, Elías also offenbar zerstreuter wurde. Die Brote variierten zwischen labbrig und hart, und manchmal fand sie Dinge im Brot, die dort nichts zu suchen hatten, vielleicht weil er den Tisch in der Speisekammer abfegte. Die Brotbackmaschine stand ja unter diesem Tisch. Schrauben hatten nun wirklich nichts im Brot zu suchen – Schrauben jedoch begegneten einem seltsamerweise überall im Haus, als ob Schrauben diese armselige Existzenz hier zusammenhielten. Lies versuchte, noch mehr Ordnung in der Speisekammer zu halten, kehrte regelmäßig den Boden und wusch die Regale ab. Trotzdem biss sie immer wieder mal auf Steinchen im frischen Brot. Man wurde duldsam, es hatte ja keinen Sinn zu meckern, weil sich nichts am Zustand ändern würde – Steine spuckte sie also neben den Teller, labbriges Brot warf sie in den verrosteten Toaster, den sie in einer Ecke der Speisekammer gefunden hatte, zu hartes Brot briet sie sich mit Fett in der Pfanne. Elías ließ sie gewähren, kommentierte nichts, und er lachte sie auch nicht mehr aus, wie er es noch zu Anfang bisweilen getan hatte. Ihn interessierten ihre Essensvorlieben und Gewohnheiten herzlich wenig. Er lebte, umgeben von helvíti, helvíti und klebrigem Ahornsirup, sein Leben, wie er es seit vermutlich hundert Jahren tat.
Einmal gab es milchige Suppe, in der allen Ernstes Gräser und Moosstückchen schwammen, die er einen ganzen Vormittag lang auf den Klippen gesammelt hatte. Das kam Lies geradezu mittelalterlich vor. Die Suppe hatte zwar eine arg schleimige Konsistenz, schmeckte jedoch wider Erwarten ziemlich gut, und sie freute sich auf den zweiten Teller zum Abendbrot. Die zerkochten Innereien, die für einen Sonntag vorgesehen waren, hatte er zu Mus gekocht und mit viel Pfeffer gewürzt, man musste einfach nur vergessen, was man da aß. Das war nicht ganz einfach, aber es ging, weil sie hungrig genug war. Doch an dem Tag, als es süßen Milchreis mit gekochter Blutwurst gab, ließ Lies ihren Teller stehen und verließ die Küche, weil sie befürchtete, sich auf den Teller übergeben zu müssen. Danach deckte er den Tisch nicht mehr für sie.
»Bekomme ich kein Essen?«, fragte sie patzig bei der nächsten Mahlzeit.
Elías zuckte mit den Schultern und widmete sich kommentarlos seiner trüben Wassersuppe, in der Brotstücke herumschwammen, weil er seit einigen Tagen einem Sparsamkeitswahn verfallen war und selbst Brotscheiben neuerdings abzählte. Lies’ Gesicht versteinerte sich vor Ärger.
»Also kein Essen«, sagte sie mit harter Stimme auf Deutsch. »Ich schufte für dich, räume deinen Mist weg, aber Essen hab ich nicht verdient, oder wie?« Wut und Enttäuschung schnürten ihr die Kehle zu. Bevor er sie daran hindern konnte, schnitt sie sich zwei dicke Scheiben Brot ab und stapfte in den Stall. Dort gab es Wasser aus dem Hahn und in einem Schälchen, das sie gestern früh dort vergessen hatte, Schafsmilch, die wie Crème double schmeckte und mit ihrem gewaltigen Fettgehalt erst die Kehle schmierte und dann den Bauch wärmte. Irgendwann war sie darauf gekommen, dass Schafsmilch, obwohl sie so seltsam roch, besser schmeckte als alles, was sie je an Milch getrunken hatte. Und dass man davon wunderbaren Brotaufstrich machen konnte – wer mochte da noch an deutschen Schmierkäse denken? Mit dem Finger verteilte sie die Schafsmilchcreme daumendick auf ihrem Brot und musste grinsen bei dem Gedanken, wie Elías sich über die Verschwendung der kostbaren Milch ärgern würde, wenn er davon wüsste.
Zum Essen setzte sie sich draußen auf einen umgedrehten Kanister und starrte auf die graue Wiese. Über dem Misthaufen kreisten zwei riesige schwarze Vögel. Raben? Irgendwo hatte sie gelesen,
Weitere Kostenlose Bücher