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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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Haltung, und nun doch angeekelt, wischte sie die Finger am Schaffell sauber. Wieder stöhnte das Tier tief und lang, feuchter Schleim schmatzte: Das Lamm war ihr gefolgt, zwischen den beiden Beinchen war eine Nase in der Scheide zum Vorschein gekommen. Das Mutterschaf grunzte aus tiefster Kehle und erbebte beim Pressen. Lies riss sich zusammen. Mit beiden Händen griff sie nach den Beinchen und zog daran – und die nächste Wehe spülte das Lämmchen auf den Boden!
    Es sah aus wie ein Stück totes Fleisch.
    Betroffen beugte sie sich über den Neuling, rührte an seinem Köpfchen. »He«, sagte sie leise. »Sag was.«
    Die Mutter drehte sich schwerfällig um und begann das Lamm abzulecken. Sämtlicher Mut und die eben noch kühle Gelassenheit fiel von Lies ab. Wieder empfand sie Ekel, roch das süßliche Blut... und doch verharrte sie, denn das Lamm zuckte mit dem Ohr. Stück für Stück legte die Mutter ihr Lamm frei, zupfte ihm die dünne Eihaut vom Körper und massierte mit der rauen Zunge den schlaffen, dünnen Körper. Das Lamm hob den Kopf. » Bäääh «, machte es leise und sehr müde.
    Ein dicker Kloß verschloss Lies’ Hals. Das hier war das Leben. Das war der Beginn – so einfach und so klar.
    Wieder diese Klarheit. Eben noch nicht da und jetzt – da.
    Da lag es, neu, so neu wie nichts sonst auf der Welt – und sie hatte ihm geholfen, diesen Weg zu schaffen. Sie war das Erste, was dieses Lebewesen von der Welt an sich gespürt hatte – ihre Finger, die den Weg zum Leben gezeigt hatten. Lies hockte sich in den Mist und weinte. Tränen rannen über ihre Wangen, sie fand sich furchtbar albern und sentimental, doch sie konnte die Tränen nicht unterdrücken – das hier war unglaublich!
    Das Schaf hatte das kleine, lockige Kerlchen von der Eihaut befreit und gab ihm einen aufmunternden Stubs. Den Rest musste es selber schaffen, seine Mutter ging jetzt erst mal saufen. Mit großem Durst soff sie den Plastiknapf auf dem Futtergang leer und widmete sich dem Heu. Das Lamm meckerte leise und hob wackelnd den Kopf. Hübsch war es, mit einem Köpfchen wie eine Puppe und seltsam braungeflecktem Fell, in dem Lichtreflexe von der Petroleumlampe tanzten. Kein anderes Lamm auf Gunnarsstaðir sah so aus. Leise rührte Lies an den Löckchen. »Ich nenn dich Solveig – wie gefällt dir der Name?«, flüsterte sie. »Hat was mit Sonne zu tun. Oder so. Irgendwann kann ich ihn dir richtig übersetzen. Solveig.«
    Der Stall hatte sich in eine Zauberwelt verwandelt. Das Rascheln und Knacken umgab Lies wie ein schützender Mantel, was interessierte da noch, was draußen abging. Ob Elías wegen irgendwas knurrig war oder ob es schneite, regnete, stürmte, ob es nach Pisse stank, war doch alles egal. Lies wurde mutiger. Sanft strich sie über den Lämmerkopf. Ungeschickt reckte das Tierchen sich, setzte die schmalen Beinchen auf, ging auf die Knie und brach wieder zusammen. Aller Anfang war schwer. Lies lächelte schniefend. Kurz bevor ihr die Beine vom Hocken einschliefen, hatte das Lamm mit Namen Solveig es dann doch geschafft und torkelte auf unsicheren Beinen zur Mutter hin. Wie blind stubste es ins Fell hinein, stieß mit der Nase gegen das Bein, offenbar auf der Suche nach dem Euter. Die Mutter sah sich nur kurz um, blubberte zärtlich, ließ sich aber nicht vom Fressen abhalten. Kinder zur Welt bringen ist anstrengend. Das Lamm schwankte. Wieder und wieder stieß es mit dem Kopf gegen ein imaginäres Euter, blind ins Fell hinein – und dann traf es tatsächlich die richtige Stelle. Fasziniert beugte Lies sich vor. Mit überstrecktem Kopf stand es da auf unsicheren Beinen und schmatzte, schmatzte, schmatzte …
    » Glæsilegt gott «, sagte da jemand hinter ihr. » Helvíti gott – verdammt gut.«
    Lies fuhr zusammen, fast blieb ihr das Herz stehen. Elías stand an der Holzbrüstung, betrachtete ihre verschmierten Hände und nickte mit zusammengekniffenem Mund. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und humpelte hinaus, und wie ihr vorkam, humpelte er noch stärker als sonst. Lies wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Seit wann er wohl hier gewesen war und sie in ihrer Rührung beobachtet hatte? Oder ob er alles mitangesehen hatte?
     
    Sie hatte den Eindruck, als baue er gesundheitlich ab. Sie hatte keine Ahnung von Krankheiten. Aber es kam ihr vor, als würde er langsamer in allem, was er tat. Sie fand nicht nur die Thermoskanne erneut im Kühlschrank, auch den Zucker versteckte er neuerdings dort, und sogar

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