Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
dass es in Island noch viele Raben gab. Aus hellen Äuglein musterten sie die Zuschauerin, landeten dann auf dem Mist und krächzten sie auf beinah unverschämte Weise an. Fahr! Fahr! Fahr! meinte Lies zu hören. Sie stopfte sich das restliche Stück Brot in den Mund, auf das es der eine Rabe wohl abgesehen hatte, und warf dann einen Stein nach den Vögeln. Selbstbewusst langsam flogen sie auf, rauschten über ihren Kopf – Fahr! Fahr! Gunnarsstaðir gehört uns - und verschwanden hinter dem Scheunendach.
»Haltet’s Maul!«, brüllte Lies ihnen hinterher. »Haltet doch alle das Maul – alle!«
Auf Gunnarsstaðir wurde es noch schweigsamer.
Wie Jói vorausgesagt hatte, kamen immer mehr Lämmer zur Welt, während sie im Stall war, und die Futterrunden dauerten länger und länger. Inzwischen konnte auch sie erkennen, wenn sich ein Schaf im Laufstall niederlegte und die charakteristischen Geräusche machte, dass sich eine Geburt ankündigte. Meist war noch genug Zeit, das Tier in eine rasch durch Holzelemente abgetrennte Box zu treiben, damit es in Ruhe gebären konnte. Doch selten war Zeit dabeizubleiben, weil die anderen Tiere versorgt werden mussten. Immer dasselbe, immer dieselbe Runde, vom Heuballen zu den Futtergängen und zurück, am braunen Schaf vorbei, am Zuchtbock vorbei, der gierig aus seiner Box herausschaute, an dem graumelierten Schaf vorbei, das sie stets so klug anschaute und das seine Drillinge ganz ohne Hilfe zur Welt gebracht hatte. Ob es tatsächlich schlauer war als die anderen? Seine Lämmer gehörten auch zu den pfiffigeren im Stall, die kletterten schon nach wenigen Tagen fast bis auf den Futtergang und balgten sich von früh bis spät.
Auf dem Futtergang drängten sich immer hungrige Nasen an ihren Füßen vorbei – sie lernte, dass es sinnvoll war, dem Drängeln nicht nachzugeben, denn ein falscher Tritt konnte in Island ein Schicksal besiegeln, wenn man so einsam wohnte wie Elías auf Gunnarsstaðir. Gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sie sich den Fuß brach.
Und Elías?, fragte eine leise Stimme.
Nicht auszudenken, wenn mit ihm etwas war. Lies kämpfte energisch gegen diese Gedanken. So, wie sie ihn kennengelernt hatte, war ihm doch alles gleichgültig. Oder?
Nachdenklich lehnte sie dann doch an der Brüstung und starrte auf den gestampften Lehmboden. Ein Kinofilm fiel ihr ein, den sie vor noch gar nicht so langer Zeit gesehen hatte. Er handelte von einem alten Mann auf einer einsamen Farm, der seinen Weggang vorbereitete. Seine Frau war gerade gestorben, niemand wusste davon. Aus Holzresten und Treibgut baute er ihr einen Sarg, nahm Abschied von ihr, wuchtete den Sarg allein in das geschaufelte Grab und legte sich dann neben den Sarg. Über eine Ziehvorrichtung klappte er einen Anhänger hoch, und die daraufliegende Erde rauschte auf ihn herab und begrub ihn neben seiner Frau – just in dem Moment, als die Tochter durchs Hoftor hereingefahren kommt, um die greisen Eltern ins Altersheim abzuholen. Ein Film von unglaublicher Klarheit und Konsequenz. Sie grübelte. »The last farm« hatte der geheißen – und er hatte tatsächlich in Island gespielt. Frierend lugte sie durch das angelehnte Scheunentor. Elías hätte sie so was auch zugetraut. Bitterste Konsequenz bis zum allerletzten Atemzug, bis die Erde, die man ein Leben lang umarmt und eingeatmet hatte, einem die Luft nahm und zum ewigen Schlaf zudeckte …
Sie sah sein verbittertes, unrasiertes Gesicht vor sich. Konsequent und gleichgültig? Nein. Die Tiere waren ihm nicht gleichgültig. Ob er sich da etwas überlegt hatte? So selten wie hier jemand vorbeikam, würden sie doch verhungern, alle miteinander. Die Schafe, die Lämmer, das Pferd.
Das Pferd schnaubte ausgiebig. Lies schloss die Scheunentür und wanderte zu der Box am Ende des Stalles. Was tat dieses Pferd überhaupt hier, kam es jemals raus, wurde es geritten? Oder war es nur da? Sie beugte sich über die Tür und schaute in die Box, die sie heute Morgen erst wieder ausgemistet und gekehrt hatte. Das Pferd stand in der Ecke und döste. Inzwischen konnte sie es sogar anfassen, ohne dass es zurückwich. Und weil sie das weiche Fell so faszinierte, öffnete sie die Tür zu der Box und trat vorsichtig ein. Das Pferd hob den Kopf.
»Naaa«, fragte sie leise. »Was tust du so den ganzen Tag?« Leises Schnauben. Vorsichtig berührte sie die Mähne und war sich bewusst, dass jede ihrer Bewegungen beobachtet wurde. Ihre Hand glitt von der Mähne
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