Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
wohl in seinem Kopf vorging. Ob überhaupt etwas darin vorging? Vielleicht trachtete er auch nur danach, am Leben zu bleiben.
Der Hund kläffte und fegte davon. Lies wurde hektisch – wo rannte er hin -, eilig umrundete sie den nächsten Hügel, das Pferd hinter sich herziehend... und fand sich unterhalb des Stalles von Gunnarsstaðir wieder!
Elías hob den Kopf. Seine müden Augen leuchteten kurz auf, dann versanken sie wieder im Grau seines schlechtrasierten Altmännergesichtes. » Vel gert «, murmelte er, »gut, gut.«
Und ›gut‹ dachte auch Lies mit wortloser Erleichterung, als sie das Auto vor der Tür stehen sah.
Jói.
Jói war gekommen! Wie lange war er nicht hier gewesen! Und nun, ausgerechnet heute, wo sie sich so allein auf der Welt fühlte! Ohne weiteres Nachdenken ließ sie das Pferd los und rannte auf das Haus zu, dem Hund hinterher. Wo war er, wo steckte er?
Jói trat zur Haustür hinaus, Ratlosigkeit im Gesicht. Seine Brauen hüpften in die Höhe, als er sie erkannte, und erstaunt blieb er stehen.
»Wo kommst du denn her? Ich habe schon überall nach euch gesucht, alle Türen stehen sperrangelweit offen, im Haus ist es eiskalt, der Ofen ist ausgegangen – und wo ist Elías, wo?«
Lies blieb heftig atmend vor ihm stehen. Sie unterdrückte den Impuls, sich ihm in die Arme zu werfen. Oder loszuheulen. Am liebsten beides... Stattdessen brachte sie kein Wort heraus. Jóis Blick glitt über ihre Erscheinung. Das nasse, zerzauste Haar. Der nasse Pullover, obwohl Jackenwetter war. Nasse Jeans. Die blaugefrorenen Finger, obwohl man heute besser Handschuhe trug. Dann entdeckte er das Pferd mit seinem Reiter. Sörli trottete langsam auf das Haus zu, Elías war über ihm zusammengesunken und klammerte sich an seinem Hals fest. Lies hörte, wie er leise stöhnte.
»Um Himmels willen, was ist hier los?!« Jói wartete nicht länger auf irgendwelche Erklärungen, sondern stürzte auf den Alten zu und klaubte ihn vom Pferd. Er lud ihn sich auf die Arme und ging mit langen Schritten an Lies vorbei ins Haus. Türen schlugen, der Hund bellte.
Lies fiel in sich zusammen. Es schneite wieder. Die verhüllten Berge lachten grimmig. Siehste . »Haltet’s Maul!«, schrie sie. Die Berge sandten ihr als Antwort einen Schneeschauer ins Gesicht. Mai. Wer fragte hier nach Mai?
Das Pferd stand vor ihr und wartete. Leise schnaubte es, als wollte es fragen, was denn nun sei und ob es noch gebraucht würde. Sie wusste nicht, was sie mit ihm tun sollte. Und weil sie sowieso mit allem überfordert war, ließ sie Sörli einfach stehen und rannte hinter Jói ins Haus.
Das Pferd tat, was alle Pferde tun, wenn die Arbeit getan ist – es steckte die Nase ins dürre Wintergras und fraß.
Jói hatte den Alten aufs Bett gelegt und war dabei, ihn aus den zerlumpten, nassen Kleidern zu pellen. Er tat das schweigend und routiniert und ohne innezuhalten.
»Kannst du bitte Handtücher und warmes Wasser holen?«, fragte er über die Schulter. »Und eine Wärmflasche.«
Froh, eine Aufgabe erteilt zu bekommen, eilte Lies in die Küche und setzte den Kessel auf. Wie immer dauerte es ewig, bis das Wasser kochte, derweil goss sie Öl in den Ofen und zündete ihn an. Niemals würde sie sich daran gewöhnen, dass auf Gunnarsstaðir Heizen ein aufwändiger Akt war... Seufzend wusch sie sich einen Ölfleck von den Händen. Wärmflasche – eine Wärmflasche. Gab es so was in diesem Haus? Suchend ging sie von Raum zu Raum und fand schließlich ein altmodisches Blechteil im Badezimmer. Mit den verlangten Dingen kam sie zurück ins Schlafzimmer, wo Elías inzwischen entkleidet auf dem Bett lag. Lies erschrak. Noch nie hatte sie einen so mageren Menschen gesehen!
Jói nahm ihr die Wärmflasche aus der Hand und bedeutete ihr, die Wasserschüssel auf den Boden zu stellen. Sie tat, wie ihr geheißen, und schaute peinlich berührt weg. Elías sagte leise etwas.
»Er sagt, du sollst draußen warten.« Mit hochgezogenen Brauen sah Jói sie an. Wortlos ging sie und fühlte sich ziemlich überflüssig. Blödes Gefühl. Verdammt. Durch die angelehnte Tür sah sie, wie Jói mit sicheren Handgriffen den alten Mann wusch, zügig abtrocknete und in eine Wolldecke packte, in die er die Wärmflasche hineinschob. Sie unterhielten sich leise, Elías deutete mit dem Daumen auf den Nachttisch, wo Jói allerhand medizinisches Zeug herausholte. Wie sie das von der Oma kannte, stach er mit einer Nadel in den Finger und schob einen Teststreifen mit einem
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