Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, denn er reichte ihr die Hand als Geste, ihm aufzuhelfen. Mit der anderen Hand angelte er nach Sörlis Mähne, und sie staunte, wie ruhig das Pferd stehen blieb, als er sich ächzend an ihnen beiden hochzog. Die Notlage hatte sehr an seinen Kräften gezehrt, schwerfällig stützte er sich auf ihren Arm. Lies schämte sich, dass sie kurz den Kopf abwenden musste, weil ein derart unangenehmer Geruch von ihm ausging... Sie biss sich auf die Lippen. Er war krank. Er brauchte jetzt Hilfe. Sei nicht so empfindlich, schimpfte sie sich selber aus. Elías schwankte. Hochkonzentriert fummelte er an Sörlis Sattel herum, zog den Gurt fest und bedeutete Lies, ihn in den Sattel zu heben.
»Du hast Ideen«, sagte sie kopfschüttelnd auf Deutsch, »wie soll ich das denn machen...?« Sie schlang die Arme um seine Hüfte und versuchte ihn hochzuhieven, doch er rutschte immer wieder zwischen ihren Armen herunter. Dann probierte sie es mit seinen Beinen, stemmte, drückte, hievte, und das Pferd stand wie ein Felsblock und wartete geduldig darauf, dass man ihm die Last auf den Rücken legte. Stöhnend brach Lies einen weiteren Versuch ab, weil ihr Rücken streikte. Schnee schmolz an ihrem Hals und rann in den Kragen hinab. Ihre Hände waren steif und wollten kaum gehorchen – die Handschuhe lagen natürlich im Stall. Wer rechnet auch damit, in die Eiszeit katapultiert zu werden, wenn er nur mal kurz den Stall verlässt, um den Hausherrn zu holen. Stumm fluchte sie vor sich hin. Elías schwieg, die ganze Zeit. Er hatte nur ein Ziel: Atem sparen und auf den Rücken seines Pferdes gelangen, weil er keinen Schritt mehr gehen konnte und Gefahr lief, in seiner durchnässten Kleidung zu erfrieren. Er wartete kommentarlos, bis sie sich wieder gesammelt hatte.
Sein eiserner Wille übertrug sich auf Lies, und gemeinsam versuchten sie es ein weiteres Mal: Lies packte ein Bein, wie sie das in einem Film mal gesehen hatte, nahm alle Kraft zusammen und stemmte den alten Mann vom Boden hoch. Er griff in die volle Mähne, umschlang Sörlis Hals und krabbelte mit einem Aufstöhnen über den Rücken, erst mit dem Oberkörper, zog ihn weiter vor, dann lag das rechte Bein über der Kruppe. Lies schob und drückte, während nasse Schneeschauer über sie hinwegfegten, und irgendwann blieb der Alte mit herabhängenden Beinen auf Sörlis Rücken liegen. Langsam richtete er sich auf. Das Pferd hatte sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt.
Elías nickte ihr zu. Sie packte das Seil und ging los, dem Hund hinterher. Was blieb ihr auch anderes übrig, denn der Schnee nahm ihr immer noch die Sicht, und sie hätte wieder nicht gewusst, in welche Richtung sie sich halten sollte. Der Alte hockte schweigend und zusammengesunken auf dem Pferd, die Hände in der Mähne vergraben. So geschwächt und krank er auch sein mochte, auf dem Pferd wirkte er auf eine seltsame Weise stolz. Wie ein Bild aus vergangenen Zeiten, wo man allein als Reiter das unfreundliche Land überlistete und wo guten Pferden in Gedichten ein Andenken bewahrt wurde. In einer Zeitung hatte sie solch ein Gedicht entdeckt und mühevoll übersetzt: › Sörli trägt mich daunenweich / lässt an Frühling denken / was dem Traum, dem Liede gleich / seine Gänge schenken ...‹ Wie seltsam, dass das Pferd auch diesen Namen trug. Immer wieder sah sie sich verstohlen um und wunderte sich über die Rührung, die sie überkam. Denn der zweite Vers des Gedichtes spiegelte sich gerade wieder, jetzt, da ihnen der Schnee ins Gesicht peitschte und es irgendwie nach Winter, Abschied und Tod roch, obwohl doch der Sommer vor der Tür stand: ›Nehme Abschied ich von hier / muss die Todesfurt durchreiten / schicke, Herr, den Sörli mir / er soll mich nach Haus begleiten.‹
Lies wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht, waren es Schneeflocken oder Tränen? Muss die Todesfurt durchreiten. War der Alte auf diesem Weg? Und war sie als seine Begleiterin auserkoren?
Sie kletterten den Pfad entlang. Traumwandlerisch sicher setzte das Pferd einen Huf vor den anderen, während Lies über Sträucher stolperte und beinahe hinfiel, und selbst als es mit dem Hinterbein in ein verstecktes Loch knickte, geriet es nicht in Panik, sondern suchte ruhig sein Gleichgewicht, balancierte den Reiter aus und marschierte weiter. Trotzdem war der Heimweg unglaublich lang. Immer wieder sah sie sich besorgt nach dem Alten um. Starr und in sich gekehrt war sein Blick auf Sörlis Mähne gerichtet. Was
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