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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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und das moosige Dunkel um die warme Quelle herum wurde von helleren Tönen eingeholt. Das Land wirkte von Tag zu Tag weicher, und wenn das Sonnenlicht mit den Farben flirtete, hatte man das Gefühl, der Boden sei von Samt bedeckt, auf dem man mühelos barfuß laufen konnte. Laufen – laufen, im Grün versinken, immer weiter, bis an den Horizont, wo am Himmel seltsame Wolkentiere ruhten und wo man an klaren Tagen die Ausläufer des Gletschers sehen konnte. Immer üppiger wurden die Wiesen, immer mehr wogte das Gras, immer leichtfüßiger galoppierte der Schimmel dem nimmermüden Tag hinterher, immer kräftiger wurden die Lämmer, und immer aromatischer duftete der kräuterreiche Samt, der angetreten war, die Berge einzukleiden und für wenige Wochen zu sanften Riesen zu zähmen …
    Lies fand die Berge von Gunnarsstaðir nicht mehr bedrohlich.
     
    Der Tag, an dem sie die Herde ins Hochland entließen, kurz nach dem Scheren, als es ein paar Tage hintereinander warm gewesen war, hatte etwas von Aufatmen und gleichzeitig von Abschiednehmen. Elías war mit ihr zusammen zur Weide gehumpelt, den Stock in der Hand. Der Spitz marschierte ungewohnt brav bei Fuß.
    »Wissen die denn, wohin sie laufen sollen?«, fragte Lies neugierig. Elías nickte nur. Ungeduldig rüttelte er am Gatter, der Knoten, mit dem es befestigt war, lockerte sich. Die ersten Schafe kamen blökend angelaufen, allen voran der alte Zuchtbock, dessen Gehörn wie poliert in der Sonne glänzte. Lies grinste. Er hatte sich wohl fein gemacht für den Ausflug.
    »Der weiß es, und die da -«, der Alte deutete auf ein schwarzes Schaf mit hellem Gesicht, »die weiß es auch. Das ist meine Klügste. Die weiß alles.« Erwartungsvoll schaute das Schaf ihn an, und Lies glaubte ihm sofort. Die Kluge hatte drei Lämmern ohne Hilfe das Leben geschenkt und immer wieder, ohne zu mucken, Milch für andere Lämmer gespendet. Sie war klug. Und ganz sicher war ihre Milch besser als die der anderen Schafe.
    Wenn sie reden könnte, hätte sie ihn jetzt grinsend gefragt, warum er eigentlich so langsam war.
    Lies half ihm, den Verschluss des Tores zu öffnen, ohne das Gatter wegzunehmen. Wie jugendliche Rüpel drängelten die Schafe sich hinter der Absperrung, stiegen sich gegenseitig auf die Rücken und stießen sich die Köpfe in die Leiber, als ahnten sie, dass der große Tag gekommen war. Der Spitz jaulte erregt, ein Zischen hielt ihn jedoch am Platz festgenagelt. Lies staunte.
    » Heeelvíti – dann lauft!«, rief der alte Mann und zog das Gatter weg.
    Es war ein Hauen und Stechen, so ging es ihr durch den Kopf, wie wenn sich das Tor zum Fußballstadion öffnete – alles turnte rücksichtslos übereinander, laut blökend und aufgeregt schnaufend, Kleine, Große, Alte, Junge, alle hatten nur ein Ziel: weg von hier, nach vorn, wo der Berg lockte. Der Berg! Woher auch immer sie das wussten – sie kannten den Weg. Das schlaue Pärchen Bock und Klugschaf lief vorne, die Herde folgte wackelnd, wogend und hüpfend: naschte am Wegrand, inspizierte Gräben, sprang vor Freude umher, soff an Quellen, blieb zurück und staunte, nur um dann wieder voller Panik der Herde hinterherzurennen …
    Lies lachte aus vollem Halse, weil es so unglaublich menschlich wirkte, was die Schafherde da bot. Elías stand neben ihr, breitbeinig und aufgewühlt schnaufend, der Hund hechelte neben seinem Bein.
    »Lauft – und kommt mir alle gesund wieder«, brummte der Alte, mit einer Stimme so weich wie ein Vater, der seine Kinder in die Welt hinausschickt.
    Noch lange sahen sie der Herde nach, zusammen mit den Daheimgebliebenen, zwei zu mickrig geratenen Böcken, den beiden heimalingar und einem Mutterschaf, das sich vorgestern am Lauf verletzt hatte und einen isländischrobusten Verband trug, samt Lamm, die sich gegen ihr Pferchgatter drückten und nicht verstanden, warum sie nicht mitrennen durften. Die wogende weiße Masse wurde immer kleiner. Die Ersten erklommen bereits den Hügelpfad. Manche Nachzügler hüpften blökend hinterher, andere ließen sich nicht stören auf dem Fleck, wo das Gras gerade schmeckte, oder strebten auf die Klippen zu, wo ein Meer von Kräutern verlockend und leuchtend lila blühte.
    »Morgen sind sie alle fort«, sagte Elías. »Morgen sind sie fort.« Und Bedauern schwang in seiner Stimme. Tröstend legte Lies die Hand auf seinen Arm. Der alte Mann sah sie erstaunt an. Sein steinernes Gesicht zerfloss, die alten Augen zwinkerten und wurden so klein, als müssten sie

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