Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
in dem Pferch, einer lotste Schafe nach draußen. Die Scherer packten sich das nächstbeste Schaf bei den Hörnern. Sie zwangen es mit dem Kopf zwischen ihre Beine, klemmten es dort fest und ließen die Schermaschine surren. Das Schaf blökte hilflos, und es sah grotesk aus, wie es mit dem Kopf zwischen den scheinbar eisernen Oberschenkeln des Glatzkopfs wackelte. Der Glatzkopf beugte sich vor, die Schermaschine senkte sich gleich am Hals in den dicken Schafspelz, und mit gleichmäßigen Bewegungen vom Hals zum Schwanz schor er den alten vom neuen Pelz. Sein Rücken ging rhythmisch vor, eine dicke Schicht Wolle klappte weg, die Maschine setzte wieder oben an und zog nach vorne weg, es surrte so gleichmäßig wie die Bewegungen des Mannes, und es sah aus, als packe man das Schaf aus seinem Hemd. Am Schluss fiel der Pelz zu Boden, wie von Zauberhand in einem Stück, so dass Lies nur staunen konnte. Die Beinklemme öffnete sich, das Schaf sprang panisch in die Höhe und davon, nur noch halb so dick wie vorher und heilfroh, dem Stall und der Enge entkommen zu sein.
Schaf um Schaf erhielt diese Behandlung. Surrend hielt die Maschine Ernte, Wollkleid um Wollkleid sank zügig zu Boden und wurde von einem Glatzkopf beiseitegeräumt, während die anderen beiden Männer die Schur erledigten, ohne zu sprechen, ohne zu scherzen, schweigsam, ernst. Selbst Lies verging das Sprechen. Das Surren drang in ihren Kopf, sie stierte auf die Pelze, fühlte Wolle und Haare um sich herum, roch das herbe Wollwachs …
Die Männer wechselten sich schweigend ab, ohne ihren Rhythmus zu unterbrechen, und nun räumte der Bärtige die Felle zur Seite. Lämmer sprangen meckernd zwischen den Scherern ins Freie, Mütter blökten hinterher, bis sie den Messern entkommen konnten.
Unter den Freigelassenen draußen herrschte statt Erleichterung immer mehr Panik. Die Lämmer galoppierten schreiend umher, suchten die Mutter, denn die war vielleicht noch drinnen und hörte nicht, und überhaupt sahen jetzt alle Schafe ganz anders aus. Voller Anteilnahme beobachtete Lies, wie Lämmer von Mutterschaf zu Mutterschaf rannten, schnüffelten, zu trinken versuchten, weggetreten wurden und kopflos umherliefen – die Verzweiflung der Mutterlosen war riesengroß.
»Gras schmeckt ja auch«, sagte Elías neben ihr. Es hatte lange gedauert, bis er sich aus dem Haus herbewegt hatte, und offenbar hatte er schon eine ganze Weile am Zaun gestanden. »Sie finden sich schon.«
»Aber verhungern sie denn nicht ohne Milch?« Lies konnte sich nicht vorstellen, dass es so richtig war.
Elías schüttelte mit dem Kopf. »Sie brauchen beides, das Gras und die Milch. Deswegen bleiben unsere heimalingar ja hier unten. Im Hochland wandern sie im ersten Jahr immer mit der Mutter, und sie trinken Milch und fressen Gras. Ohne Milch bleiben sie mickrig.« Was hieß, es gab kein Geld vom Schlachter, ergänzte Lies stumm. Nun ja, so war das halt.
Einer der großen, unheimlichen Raben war vom Stalldach heruntergeflattert. Lies hatte Angst vor den Vögeln. Sie saßen oft bewegungslos auf Zaunpfosten, ließen sich zumindest von ihr nicht aus der Ruhe bringen, beobachteten sie stattdessen aus hellgrauen, aufmerksamen Äuglein, und wenn sie dann mal losflogen, taten sie es auf arrogant-selbstsichere Art und Weise – Gunnarsstaðir gehört uns. Alles gehört uns. Das hatte sie schon mal gehört. Ganz sicher. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie den Vogel. Den hatte sie auch schon mal von Nahem gesehen. Er hüpfte über den Boden, auf den stetig anwachsenden Fellberg zu. Mit seinem großen Schnabel pickte er in die Wolle und zog sich einen halben Schafsmantel aus dem Berg, um neben der Scheune in Ruhe das Stück untersuchen zu können. Ein zweiter Rabe kam heruntergesegelt. Zusammen zupften sie Wolle aus dem Haufen und nahmen beide das Maul so voll, dass sie wie der Bärtige drüben an der Schermaschine aussahen, und der Abflug gestaltete sich nicht so elegant wie sonst.
»Sie wohnen über meinem Schlafzimmer«, sagte Elías. »Die waren immer schon hier. Wenn eine Hofstelle Raben beherbergt, ist es ein guter Ort, weißt du.« Er rieb sich das Bein und stöhnte leise. Dann humpelte er hinüber ins Haus und überließ sie ihren Beobachtungen und dem Gestank von Wollwachs und schmutziger Schafwolle.
Der Kaffee, den sie kurze Zeit später servierte, wurde ebenso schweigsam genommen, wie die Arbeit vollendet worden war. Pro Schaf hatten die Scherer vielleicht zwei Minuten gebraucht,
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