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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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Pferdegeschichten.« Er hatte seine Beine ausgestreckt und wippte mit den Fußspitzen.
    »Lass den Ari«, unterbrach Elías den Doktor zu Lies’ Überraschung. »Er kennt gute Geschichten.«
    Der Kaufmann lächelte gönnerhaft. »Sie ist nur kurz – weil ich so viel gegessen habe.« Liebevoll tätschelte er seinen runden Bauch. »Es gab da einen kleinen Jungen, Jón. Jón wurde später Islands berühmtester Bischof. Als Jón klein war, wünschte er sich wie alle kleinen Jungen ein Pferd. Eines Tages kam ein Bauer zu Besuch – der hieß auch Jón, ja. Und der Bauer Jón hatte ein kleines, schönes Pferd bei sich. Und als er sah, dass dem kleinen Jón das Pferd sehr gut gefiel, sagte er zum Spaß, er wolle es ihm schenken, stellte ihm aber eine Aufgabe: ›Sag mir acht Gedichtzeilen zu diesem Pferd, und in jeder zweiten Zeile muss sein Name – Móalingur – vorkommen. Schaffst du diese acht Zeilen, während du mit acht Schritten einmal um das Pferd herumgehst, soll Móalingur dein sein‹.
    Und der kleine Jón, der ein großer Dichter war, tat acht Schritte um das Pferd herum und sprach dabei folgende Zeilen:
    ›Meine Freud, zum Ritt bereit, um Móaling zu gehn im Ring, zu sprechen dann den guten Mann, der schenkt mir flinken Móaling.
     
    Die Welt verlieh mir Reichtum nie, kein kostbar Ding wert Móaling. Ich bitt zum Lohn, dass Bauer Jón als Gabe bring mir Móaling.‹
    »Und hat er das Pferd bekommen?«, fragte Lies gespannt.
    »Er hat das Pferd bekommen«, nickte Ari und lehnte sich wieder zurück in den Küchenstuhl.
    Sörli hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Leise spielte der Wind mit seinen Mähnenhaaren, als wolle er nicht stören. Der stolze Kopf sprach von Würde und Wissen. Lies lief ein Schauer den Rücken herunter. › Kein kostbar Ding wert Móaling ...‹<
    » Wen kein Bangen mehr beschwert «, sagte da Elías mit brüchiger Stimme von hinten,
    » wen kein Bangen mehr beschwert,
    frei von hinnen reitet.
    Heil führt ihn auf seinem Pferd,
    Glück den Zügel leitet.«
     
    Sie schwiegen lange in den Morgen hinein und ließen die Worte nachklingen. Dann drehte Jói sich um. »Der Mann, der das gedichtet hat, war übrigens Bischof und sollte geköpft werden. Seine Flucht auf einem Pferd wurde leider vereitelt«, grinste er. Elías knetete die Lippen gegeneinander, wie er es oft tat, wenn er in Gedanken war.
    »Er starb?«, fragte sie unsicher.
    »Er starb«, nickte Jói. »Vor – 500 Jahren. Oder so.«
    Lies starrte vor sich hin und nahm noch einen Schluck von ihrem starken Kaffee. Kleine Jungs tollten dichtend durch das Gras, es roch nach Weihrauch, und die braunen Berge bekräftigten, dass sie das alles mitangesehen hatten. Was für Geschichten. Sie gähnte.
    Immer noch lauschte das Pferd. Antwort jedoch kam keine, denn außer Sörli lebte kein Pferd in diesem Tal. Lies fand das traurig. Jeder brauchte einen Freund zum Kraulen. Elías hatte Ari – naja, natürlich nicht zum Kraulen, sondern zum Trinken. Sie, Lies, hatte auch keinen... hm. Bekümmert schaute sie auf die blendend weiße, einsame Erscheinung, die sich manchmal darüber freute, gekrault zu werden, und gähnte wieder. Es war ganz schön lange her, dass sie um diese Zeit noch wach war – nach der anstrengenden Lämmerzeit hatte sie tagelang fast nur geschlafen und Elías damit zur Weißglut getrieben, weil andere Arbeit liegen geblieben war. Geschimpft hatte er und an ihre Zimmertür gebollert, sie solle aufstehen, es gäbe was zu tun und es sei keine Zeit für Faulenzerei …
    Leise Musik erklang. Ari suchte brummelnd nach der schwarzen Flasche unter seinem Stuhl. Die Zeit fürs Geschichtenerzählen war vorüber.
    »Ich hab immer ein Bad dort drüben anlegen wollen«, sagte Elías undeutlich. »Immer. Immer wollte ich ein Bad an der Quelle anlegen. Man könnte dort gut ein Bad anlegen, das wollte ich immer. Anna hatte sich ein Bad gewünscht. Siehst du die Quelle dort drüben? Dort wollte ich immer... Ich wollte... Jaaaa.« Er drehte seine Finger umeinander. »Jaja.«
    »Warum hast du’s nicht gemacht?« Lies fand, dass ihre Stimme normal klang, obwohl Jói ihr einen besorgten Blick zuwarf. Unsinn. Der Küchentisch war immer schon rund gewesen. Ihr ging es gut, ihr Stimme war normal und die Wirkung dieses Teufelszeugs aus der schwarzen Flasche längst verflogen. Immerhin hatte sie danach auch schon zwei Tassen Kaffee getrunken. Und Aris Geschichte vom Pferd Móalingur hatte sie verstanden.
    »Warum hast du’s nicht

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