Der letzte Liebesdienst
Ihren Gedanken wieder ganz woanders.« Sie legte beide Hände flach auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Sinn hat, Ihnen noch eine Chance zu geben. Sie können sich ja nicht einmal auf ein Gespräch mit mir konzentrieren. Man könnte meinen, Sie sind frisch verliebt. Aber dafür sehen Sie zu schlecht aus. Sie sind ja nur noch Haut und Knochen. Und Ihre Haut sieht aus, als würden Sie jeden Sonnenstrahl vermeiden.«
»Ja . . . nein . . . ich gehe nicht viel raus«, stammelte Lara. Seit Amor bei Daniel war, musste sie nicht einmal mehr mit dem Hund rausgehen. Sie verkroch sich nur noch in der Wohnung.
»Und Sie essen auch nicht viel.« Frau Stanitz legte den Kopf schief. »Ist das das Problem? Sind Sie magersüchtig?«
»Magersüchtig?« Lara öffnete groß die Augen. »Nein, natürlich nicht.«
Solange ihre Mutter bei ihr gewesen war, hatte sie regelmäßig gegessen, wenn auch nicht viel. Ihre Mutter war da sehr strikt gewesen. Sie durfte keine Mahlzeit auslassen. Aber nun, da sie wieder arbeitete, war ihre Mutter nach Hause gefahren, wohl in der Annahme, dass Lara mit ihren Kollegen essen gehen würde, dass ein geregelter Tagesablauf und die Arbeit sie dazu zwangen zu essen. Dass alles wieder normal war. Was immer das auch bedeutete.
»Sind Sie sicher?« Ihre Chefin musterte sie von oben bis unten. »So dünn waren Sie noch nie.«
»Ich –« Lara räusperte sich. »Ich vergesse oft zu essen. Aber das tue ich nicht mit Absicht.«
»Na gut, aber das will ich schriftlich.« Die Anwältin blickte sie fast drohend an. »Sie gehen zum Arzt, und ich will ein Attest, dass körperlich alles mit Ihnen in Ordnung ist. Wenn Sie nicht gesund sind, lassen Sie sich krankschreiben.«
»Sie entlassen mich also nicht?« Lara war ehrlich überrascht.
»Nein, ich entlasse Sie nicht.« Frau Stanitz schüttelte den Kopf. »Aber ich will wissen, was los ist. Eventuell muss ich dann meine Entscheidung noch einmal überdenken, aber vorher will ich Gewissheit haben. Ich will alle Fakten kennen.«
»Wie bei einem Fall«, sagte Lara.
»Ja, wie bei einem Fall. Ich bin nicht umsonst Rechtsanwältin. Das ist nun einmal die Art, wie ich denke.« Frau Stanitz hob leicht die Mundwinkel. »Und Ihr Glück. Für den Moment.«
6
S eitdem ein Arzt den Gehirntumor diagnostiziert hatte, der Majas Tod gewesen war, waren Lara alle Ärzte verhasst. Niemals wäre sie freiwillig zu einem gegangen. Aber diesmal musste sie. Ihre Chefin ließ sich von einem einmal gefassten Entschluss unter keinen Umständen abbringen.
Nun ja, sie musste nicht. Sie konnte sich einfach weigern. Dann würde Frau Stanitz sie entlassen, und damit war die Sache auch erledigt.
Sie merkte, dass diese Aussicht verführerisch war. So brauchte sie sich nicht mit dem zu beschäftigen, was ihrem aktuellen Aussehen zugrunde lag. Aber andererseits – sie mochte ihre Arbeit, und sie mochte ihre Chefin. Sie hatten kein sehr herzliches Verhältnis, weil Frau Stanitz nun einmal eher der kühle Typ war – was sie vor Gericht gefährlich machte und ihr schon zu vielen Siegen verholfen hatte –, aber sie war auch eine gute Chefin. Das sah Lara jeden Tag an den anderen Anwälten, die in der großen Anwaltskanzlei arbeiteten.
Da waren sexuelle Belästigungen der Sekretärinnen noch das geringste Problem. Das war fast schon normal. Anwälte waren grundsätzlich eine recht gefühllose Horde, hatte Lara festgestellt, je mehr sie verdienten, umso weniger scherten sie sich darum, zu welchem Preis sie das taten. Ein erfolgreicher Anwalt konnte keine Rücksicht auf Gefühle nehmen, das hätte seinem Konto geschadet.
Frau Stanitz war auch eine erfolgreiche Anwältin, und ihre kühle Art trug dazu bei, dass sie in das Bild dieser gefühllosen Welt passte, aber sie war immer korrekt. Was man von ihren Kollegen nicht unbedingt behaupten konnte. Sie versuchte das Beste für ihre Mandanten herauszuholen, genau wie ihre Kollegen, aber sie hielt sich an einen bestimmten Ehrenkodex. Das unterschied sie von ihnen.
Lara hätte für keinen anderen Anwalt in dieser Kanzlei arbeiten wollen. Dass ihre Kolleginnen so gehässig waren, hatte schon seinen Grund. Sie hatten es von ihren Chefs übernommen. Wenn sie täglich mitbekamen, wie die Herren Anwälte logen und betrogen, wie sie Leute erpressten und manchmal sogar Lügen über die Prozessgegner ihrer Mandanten verbreiteten, die den Ausgang des Prozesses zu ihren Gunsten beeinflussen sollten, wunderte Lara sich nicht,
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