Der letzte Massai
nach Süden zu ziehen, nicht wahr, Parsaloi?«
»Ich sagte, dass ich unterzeichnen würde. Ich habe mit meinen Altersgenossen gesprochen, und sie haben dem Umzug zugestimmt.«
»Sie würden dir niemals etwas abschlagen, worum du sie bittest. Aber das hatte ich nicht gefragt.«
»Wenn du mich fragst, ob ich feiern kann, dass wir den Briten einen weiteren Teil unseres Heimatlandes überlassen haben, dann lautet die Antwort: Nein, darüber bin ich nicht glücklich. Aber ich akzeptiere, was sein muss.«
»Jeder weiß, wie du empfindest, aber du hast so wenig gesagt. Warum?«
Aus der Ferne erklang der Schrei eines Rotschnabeltokos und füllte die Stille, während Ole Sadera über seine Antwort nachdachte.
»Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich all diese starken Gefühle nicht mehr mit mir herumtragen. Sie schwächen mich, Mantira. Ich werde ihrer überdrüssig. Sie bedrücken mein Herz bei Tag und suchen des Nachts meine Träume heim. Ich frage mich, ob ich wirklich bei meiner Geburt verflucht wurde, wie manche behaupten.«
Mantira suchte nach Worten, um ihn aufzumuntern, während der Toko weiter seine Stimme erhob. »Ich weiß, dass dein Leben nicht einfach gewesen ist, Parsaloi. Ich habe zugesehen, wie du erwachsen geworden bist. Ich habe gesehen, wie die anderen Kinder dich gequält haben, weil deine Mutter eine Laikipiak gewesen ist. Du warst kleiner als die anderen und in mancher Hinsicht schwächer. Aber da war eine Stärke in deinem Auftreten, du hast dich geweigert, besiegt zu werden. Ja, es gab Prügel, und du wurdest blutig geschlagen, aber nie besiegt. Es war in deinen Augen zu lesen. Mit der Zeit begannen andere zu sehen, was ich sah, und du wurdest akzeptiert. Es lag an dieser Stärke. Ich habe mich gefragt, ob es wohl dieselbe Stärke war, die dich dazu gebracht hat, bei deiner Geburt nach diesen Steinen zu greifen, oder bei jedem Hindernis, das dir in den Weg gelegt wurde, umso stärker zu versuchen, dein Ziel zu erreichen. Ich habe dich nie verstehen können. Du kamst mir immer so … anders vor.«
»Ich bin aber nicht anders«, erwiderte Ole Sadera mit Nachdruck. Er öffnete seine zu Fäusten geballten Hände und starrte sie an. Dann hielt er sie in die Höhe und fragte: »Wie anders sind diese Hände? Kommen sie dir anders vor? Was weiß ein Neugeborenes denn schon darüber, nach Steinen zu greifen? Was weiß es über Omen oder Flüche?«
Dieser Gefühlsausbruch überraschte Mantira. Ole Sadera hatte ihn noch niemals auf diese Weise in sein Inneres blicken lassen. Die
Eunoto
und das Ende ihrer gemeinsamen Zeit als Waffenbrüder hatte offenbar viele Gefühle in ihm wachgerufen.
»Wenn ich dir sonderbar vorkomme, dann deshalb, weil ich … weil ich Dinge sehe, die andere nicht sehen. Und das beunruhigt mich.« Ole Sadera senkte seine Stimme. »Und manchmal jagt es mir Angst ein.«
»Was siehst du denn?«
»In meinen Träumen – wenn es denn wirklich Träume sind, ich bin mir nicht sicher – sehe ich, wie sich die Massai auf einer langen Reise dahinschleppen. Ich sehe unsere Rinder zu Boden fallen. Ich sehe Hunger und Tod.«
»Aber das gehört doch alles der Vergangenheit an, mein Freund. Du darfst solchen Gedanken nicht nachgeben. Du solltest auf die Worte der Ältesten hören. Sie haben viele dunkle Tage erlebt, aber die sind überstanden.«
»Die Ältesten«, sagte Ole Sadera verächtlich. »Sie behaupten, unsere Übersiedlung in das Reservat im Süden wird uns Wohlstand und Glück bringen. Sie behaupten, dass wir mehr Land, besseres Land erhalten, wenn wir Entorror aufgeben.«
»Sie haben recht. Die Weißen haben es für unser Volk im Süden besser gemacht. Das haben wir von unseren eigenen Blutsbrüdern dort vernommen.«
»Ich bin in der Vergangenheit im Süden gewesen. Ich glaube nicht, dass es dort für uns gut werden wird. Aber siehst du denn nicht, was passiert ist? Wir sind aus dem großen Tal fortgezogen, um die Weißen zu besänftigen. Nun ziehen wir aus Entorror fort. Ich vermag kein Ende zu sehen, bis wir alle bezwungen sind.«
Mantira legte eine Hand auf Ole Saderas Schulter. »Hör mir zu, Parsaloi. Verbanne diese Alpträume aus deinem Kopf. Die bösen Geister, die bei deiner Geburt dabei waren, haben sie dir geschickt. Versuche, dich von den Ältesten und unseren Freunden leiten zu lassen. Glaubst du denn, unsere Blutsbrüder würden uns anlügen?«
Ole Sadera nickte als Zeichen, dass er den Ratschlag zu würdigen wusste, war aber immer noch verunsichert.
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