Der letzte Massai
»Warum nur bin ich der Einzige, der diese Schwierigkeiten sieht?«
»Vielleicht, weil du nicht weit genug schaust. Delamere hat uns versichert, dass der Umzug in das Reservat im Süden gut für uns sein wird. Er sagt, die Weißen werden hier nicht lange bleiben. Er hat sein Wort als Blutsbruder und Anführer der Weißen gegeben. Wir müssen ihm glauben.«
Mantira erkannte, dass Ole Sadera dabei war, sich seinem Standpunkt anzuschließen. »Entorror wird zu uns zurückkehren, wenn die Weißen des Landes überdrüssig sind und in ihr Heimatland zurückkehren«, fuhr er fort. »Dann werden Entorror und das große Tal wieder uns gehören.«
Dr. Norman Lewis lehnte sich zurück, zog das Stethoskop aus seinen Ohren und betrachtete seinen Patienten. Er fragte sich wieder einmal, ob er das Beste für ihn tat. Wenn er vernünftig wäre, würde er George Coll befehlen, nach England zurückzukehren und sich zwecks der Behandlung seiner Tuberkulose und zur völligen Schonung in eine Heilanstalt zu begeben, doch er wusste, dass er das nicht tun konnte. Es gab keine Vorschrift unter den Gesundheitsbestimmungen des Protektorats, mit deren Hilfe er dies hätte durchzusetzen vermocht, und auch wenn es sie gegeben hätte, wäre Coll mit aller Entschiedenheit dagegen gewesen und hätte ihm erklärt, dass er keine Zugeständnisse mehr wegen seiner Krankheit zu machen gedachte. Und Lewis kannte ihn gut genug, um ihm das zu glauben.
»Du solltest eigentlich im Hospital sein, George«, sagte er mit ernster Stimme.
»Ich dachte, das wäre ich, Doktor«, erwiderte Coll mit einem matten Lächeln auf dem bleichen Gesicht.
»Es ist mein Ernst, du benötigst mehr Pflege, als ich dir in meinem Gästezimmer angedeihen lassen kann. Wenn ich nicht befürchtet hätte, dass dich das Klima dort umbringt, hätte ich dich eiligst nach Mombasa geschickt, sobald wir aus Ngong zurückgekehrt waren. Eines Tages werden wir hier in Nairobi auch ein verfluchtes Hospital haben«, murmelte er.
»Im Augenblick steht mir nicht der Sinn nach einem Urlaub an der See«, sagte Coll, immer noch bemüht, die Umstände zu verharmlosen.
Doch Lewis ließ sich nicht darauf ein. »Wie lange hustest du schon Blut?«
»Noch nicht lange«, sagte Coll abweisend, doch als er Lewis’ strenge Miene erblickte, fügte er hinzu: »Ungefähr einen Monat.«
Lewis schlug sich mit den Händen auf die Schenkel und erhob sich seufzend aus seinem Sessel. Er trat auf das Fenster zu und blickte hinaus auf die Gummibäume in der Biegung der Straße, die nach Ngong führte. Er wollte ein wenig für sich sein, um seine Gedanken zu sammeln. Das Rätsel um die Gummibäume half ihm oft dabei.
Er hatte in der Vergangenheit schon schwierige Patienten gehabt, aber im Fall von George Coll musste er zudem mit der Last seiner Schuldgefühle fertig werden. In gewisser Weise hatte er Colls Besessenheit, den Massai helfen zu wollen, mit seinem lautstarken, nonkonformistischen Credo neuen Auftrieb gegeben. Er hatte zugelassen, dass sein Freund glaubte, seine politischen Kontakte daheim in Großbritannien seien in der Lage, die Frage der Umsiedelung der Massai im Nu zu lösen. Dabei waren die Massai nur ein unbedeutender Nebenkriegsschauplatz in einer weitaus größeren, philosophischen Debatte.
Lewis vermochte seine eigene Besessenheit bis in seine frühen Tage als Arzt in den Elendsvierteln von Glasgow zurückzuverfolgen. Er wusste, wie erschöpfend der Kampf gegen Unterdrückung und Privilegiertentum sein konnte. Bestünde in einer uneigennützigen Gesellschaft oder gar in einer sozialistischen überhaupt die Notwendigkeit, einen sturen, schwerkranken Freund davor zu schützen, sich wegen einer Ungerechtigkeit zu quälen?
Es gab so viele unbeantwortete Fragen im Leben. Dagegen sank das Rätsel um die sehr unafrikanischen Gummibäume in die Bedeutungslosigkeit.
Er wandte sich zu Coll um und sagte: »George, hör mir bitte genau zu. Du bist ohnmächtig geworden, weil deine Lungen dein Blut nicht mehr mit genug Sauerstoff versorgen. Und da du aufgrund der Hämorrhagien in deinen Lungen Blut verlierst, ist dein Organismus gefährlich geschwächt. Es besteht die Gefahr, dass du an einer Reihe von opportunistischen Infektionen erkrankst, wie beispielsweise an Pneumonie, oder dass es zu anderen Komplikationen kommt.«
Coll nickte nur.
Lewis verspürte Reue, weil er zugelassen hatte, dass seine Verzweiflung sein für gewöhnlich standesgemäßes Benehmen beeinflusste. »Es tut mir leid«,
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