Der letzte Massai
Kopfzerbrechen.«
»In der letzten Zeit betrachte ich alles, was Edouard tut, mit einem gewissen Argwohn. Was beunruhigt dich denn dabei?«, fragte Lewis.
»Es ist einfach falsch. Es mag ja bei den Kikuyu funktioniert haben, einen Stammesführer zum Sprecher zu bestimmen, aber es entspricht nicht den Bräuchen der Massai.«
»Worin liegt der Unterschied?«
»Ich weiß nicht so viel über die Kikuyu, aber sie sind im Grunde Farmer. Das macht wohl den Unterschied aus. Vielleicht haben sie auch Häuptlinge. Ich glaube, Edouard würde gern Farmer aus den Massai machen, um sie im Auge behalten zu können. Aber sie hassen Ackerbau. Sie sind der Ansicht, der Gebrauch von Werkzeug sei erniedrigend. Edouard versteht das einfach nicht. Und er weigert sich, Ratschläge anzunehmen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er nichts hören möchte, was dem, was er bereits insgeheim entschieden hat, im Weg stehen könnte. Letzte Woche erst …«
Coll verstummte und rang nach Luft. Lewis hatte schon des Öfteren gehört, wie er keuchte, wenn er sich aufregte, aber dieses Mal schien es schlimmer zu sein. Wenn er doch nur sein Stethoskop mitgebracht hätte!
»Tut mir leid«, murmelte Coll. »Letzte Woche erst habe ich ihm vorgeschlagen, Merinos aus Australien zu importieren, um sie mit den Schafen der Massai zu kreuzen, wenn ihm daran gelegen ist, sie mehr in die Erzeugung einzubinden. Dann könnten sie die Wolle verkaufen.«
»Was hat er dazu gesagt?«
»Er war der Ansicht, dass dies die Massai nur ermutigen würde, außer Rindern dann auch noch Schafe zu stehlen. Das ist seine Geisteshaltung. Dabei würde ihnen eine solche Veränderung nicht allzu schwerfallen. Sie wollen nur keine Farmer werden. Liegt die Entscheidung denn nicht bei ihnen? Sie wollen doch nur in Ruhe gelassen werden, um so zu leben, wie sie es die letzten tausend Jahre getan haben.«
Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
Lewis beobachtete, wie sich sein Freund abmühte, den Anfall zu beherrschen, und als dieser nachgelassen hatte, sagte er: »George … diese Attacken werden immer schlimmer. Du solltest …«
Coll hielt eine Hand in die Höhe, um ihn zum Verstummen zu bringen.
Lewis saugte an der Innenseite seiner Wange. »Na schön. Aber nimmst du wenigstens den Sirup zu dir, den ich dir gegeben habe?«
»Ja, Norman, das tue ich.« Coll schluckte und holte zaghaft Luft. »Um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukehren. Ich traue Edouards Absichten nicht. Die Massai haben keine Oberhäupter in dem Sinne. Sie bestimmen Sprecher, die ihre jeweilige Altersgruppe vertreten, aber ansonsten scheint alles auf einvernehmliche Vereinbarungen unter den Wortführern hinauszulaufen. Lenana ist wie jeder andere
Laibon
auch ein spiritueller Ratgeber. Das ist alles.«
»Es ergibt erst dann einen Sinn, wenn man bedenkt, dass dies die Art und Weise ist, wie wir Briten Dinge erledigen. Wir vermögen die kulturellen Vielschichtigkeiten der Menschen, über die wir herrschen, nicht zu begreifen. Es läuft auf ein simples Schema hinaus: Befasse dich mit dem Mann an der Spitze oder, wenn es den nicht gibt – wie es bei den Massai der Fall ist –, ernenne einen. Das vereinfacht die Sache.«
»Wieso sollte Lenana eine solche Position überhaupt wollen?«
Coll schien mehr mit sich selbst zu reden, als eine Antwort zu erwarten, aber Lewis gab ihm dennoch eine.
»Macht, würde ich sagen. Einfluss. Vielleicht erhält er noch ein paar Amtspflichten, die das Ansehen mehren.«
»Das ist ja alles gut und schön, aber es geht an der eigentlichen Frage vorbei: Warum möchte Edouard nun, da sämtliche Angelegenheiten entschieden und die Verhandlungen über das Land beendet sind, plötzlich einen obersten Anführer?«
»Ich werde die Sache in den Amtsstuben der Regierung im Auge behalten«, sagte Lewis, »so wie du sie zweifellos unter den Massai im Blick behalten wirst. Sollten wir irgendeinen Hinweis darauf finden, was er im Schilde führt, werde ich mit meinen Freunden in Whitehall Verbindung aufnehmen.«
Nun, da sein Anfall offenbar vorüber war, wich die Bleiche aus Colls Gesicht.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Lewis. »Gut genug, um weiterzureiten?«
»Gewiss«, gab Coll zurück und stand auf.
Sie ritten schweigend weiter, bis das kleine Massai-Dorf namens Ngong in Sicht kam. Es war umgeben von einer riesigen Viehherde, die sich über die Ebene und den Berghang hinauf erstreckte.
»Großer Gott!«, rief Coll aus. »Sieh dir nur diese Herde an. Wie viele
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