Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
Maias Größe, die Flugbahn des Asteroiden, seine Rektaszension und Deklination, die Einschlagswahrscheinlichkeit, die ganz langsam ansteigt, Woche für Woche, Monat für Monat. In einem Überblick der Financial Times von Anfang Juli über die verzweifelten Notmaßnahmen der US -Notenbank, der Europäischen Zentralbank und des Weltwährungsfonds hat er ordentliche Kästchen um jeden Dollarbetrag und Kursverlust gemalt. Zells Sammlung enthält auch Artikel über die politischen Aspekte: Hickhack um die Rechtsetzung, Nots tandsgesetze, Stühlerücken im Justizministerium, Refinan zierung des Einlagensicherungsfonds FDIC .
Ich sehe Zell vor mir, wie er allabendlich zu später Stunde an seinem billigen Küchentisch Müsli isst, die Brille neben dem Ellbogen, dabei diese Zeitungsausschnitte und Ausdrucke mit seinem Druckbleistift markiert und über jedes sich entfaltende Detail des Verhängnisses nachdenkt.
Ein Artikel aus dem Scientific American vom 3. September fragt in großen, fetten Lettern: »Wieso haben wir das nicht schon früher gewusst?« Die kurze Antwort, die ich schon kenne, die mittlerweile jeder kennt, lautet, dass 2011 GV 1 aufgrund seiner höchst ungewöhnlichen elliptischen Umlaufbahn nur einmal alle fünfundsiebzig Jahre so nah herankommt, dass er von der Erde aus sichtbar ist, aber vor fünfundsiebzig Jahren haben wir noch nicht hingeschaut, da hatten wir noch kein Programm zur Entdeckung und Verfolgung erdnaher Asteroiden. Zell hat die Zahl 75 jedes Mal umkringelt, wenn sie auftaucht; er hat eins zu 265 Millionen umkringelt, die nunmehr gegenstandslose Quote für die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines solchen Objekts, und 6,5 Kilometer, Maias zum da maligen Zeitpunkt bereits ermittelten tatsächlichen Durc hmesser.
Der Rest des Artikels aus dem Scientific American ist kompliziert: Astrophysik, Perihelien und Aphelien, gemittelte Bahnebenen und Elongationsangaben. Mir schwirrt der Kopf, während ich all das lese, und die Augen tun mir weh, aber Zell hat offensichtlich jedes Wort gelesen, hat jede Seite mit umfangreichen Anmerkungen versehen und am Rand schwindelerregende Berechnungen mit Pfeilen zu und von den umkringelten Statistiken, Beträgen und astronomischen Werten vorgenommen.
Sorgfältig setze ich den Deckel wieder auf die Schachtel und schaue aus dem Fenster.
Ich lege meine langen Handflächen auf die Schachtel und betrachte erneut die mit schwarzem Marker energisch aufgetragene Zahl an der Seite: 12,375.
Ich spüre es erneut – irgendetwas –, ich weiß nicht, was. Aber irgendetwas.
»Hier ist Detective Henry Palace vom Concord Police Department. Ich hätte gern Sophia Littlejohn gesprochen.«
Eine Pause, dann die Stimme einer Frau, höflich, aber verstört. »Am Apparat. Aber ich glaube, bei Ihnen gibt es Abstimmungsprobleme. Ich habe schon mit jemandem gesprochen. Das heißt – Sie rufen doch wegen meines Bruders an, stimmt’s? Da hat schon jemand angerufen. Mein Mann und ich haben beide mit dem Officer gesprochen.«
»Ja, Ma’am. Ich weiß.«
Ich rufe übers Festnetz an, vom Präsidium aus. Ich versuche, Sophia Littlejohn einzuschätzen, sie mir vorzustellen, mir ein Bild von ihr zu machen, basierend auf dem, was ich weiß, und nach dem Klang ihrer Stimme: aufgeweckt, professionell, mitfühlend. »Officer McConnell hat Ihnen die traurige Nachricht überbracht. Und es tut mir wirklich leid, dass ich Sie noch einmal behelligen muss. Wie gesagt, ich bin Detective, und ich habe nur ein paar Fragen.«
Während ich spreche, dringen mir unangenehme Würgelaute ins Bewusstsein; drüben auf der anderen Seite des Raumes hat McGully sein schwarzes Boston-Bruins-Halstuch über dem Kopf zu einer Comedy-Schlinge zusammengedreht und macht »ark-ark«. Ich wende mich ab, krümme mich über meinem Stuhl zusammen und halte den Hörer nah ans Ohr.
»Ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen, Detective«, erwidert Zells Schwester. »Aber ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen noch sagen soll. Peter hat sich umgebracht. Es ist schrecklich. Wir standen uns nicht so nahe.«
Zuerst Gompers. Dann Naomi Eddes. Und jetzt seine eigene Schwester. Es gab zweifellos viele Leute in Peter Zells Leben, die ihm nicht so nahestanden.
»Ich muss Sie fragen, Ma’am, ob es einen Grund gibt, weshalb Ihr Bruder Ihnen einen Brief geschrieben haben könnte. Irgendeine Nachricht, an Sie adressiert?«
Eine lange Pause am anderen Ende der Leitung. »Nein«, sagt Sophia Littlejohn schließlich. »Nein. Ich habe
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