Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
keine Ahnung.«
Ich lasse das einen Moment in der Luft hängen, höre sie atmen, dann frage ich: »Sind Sie sicher?«
»Ja, bin ich. Ich bin sicher. Tut mir leid, Officer, ich habe jetzt eigentlich keine Zeit, mit Ihnen zu reden.«
Ich beuge mich auf meinem Stuhl ganz weit vor. Der Heizkörper in der Ecke gibt ein metallisches Tuckern von sich. »Wie wär’s mit morgen?«
»Morgen?«
»Ja. Tut mir leid, aber es ist wirklich sehr wichtig, dass wir uns unterhalten.«
»Okay«, sagt sie nach einer weiteren Pause. »Klar. Können Sie morgen früh zu mir nach Hause kommen?«
»Ja, gern.«
»Sehr früh? Viertel vor acht?«
»Mir ist jede Zeit recht. Viertel vor acht ist in Ordnung. Danke.«
Wieder eine Pause, und ich blicke aufs Telefon und frage mich, ob sie aufgelegt hat oder ob es jetzt auch schon im Festnetz Probleme gibt. McGully zerzaust mir auf dem Weg nach draußen die Haare, die Bowlingtasche in der anderen Hand.
»Ich habe ihn geliebt«, sagt Sophia Littlejohn plötzlich in gedämpftem Ton, aber mit Nachdruck. »Er war mein kleiner Bruder. Ich habe ihn so geliebt.«
»Das glaube ich Ihnen, Ma’am.«
Ich lasse mir die Adresse geben, lege auf, bleibe eine Sekunde sitzen und schaue aus dem Fenster, wo immer noch Schneeregen und Graupel herunterkommen.
»Hey. Hey, Palace.«
Detective Andreas hängt zusammengesunken in seinem Stuhl auf der anderen Seite des Raumes, im Dunkeln verborgen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er da war.
»Wie geht’s dir, Henry?« Seine Stimme ist tonlos, leer.
»Gut. Und Ihnen?« Ich denke über diese schillernde Pause nach, diesen in die Länge gezogenen Moment, und wünsche, ich hätte in Sophia Littlejohns Kopf sein können, als sie all die Gründe durchging, die ihr Bruder gehabt haben mochte, um Liebe Sophia auf ein Blatt Papier zu schreiben.
»Alles okay«, sagt Andreas. »Alles okay.«
Mit einem verkniffenen Lächeln sieht er mich an, und ich denke, das Gespräch ist vorbei, aber dem ist nicht so. »Ich muss schon sagen, Mann«, murmelt Andreas kopfschüttelnd und schaut zu mir herüber. »Ich weiß nicht, wie du das machst.«
»Wie ich was mache?«
Aber er sieht mich nur schweigend an, und von meinem Platz auf der anderen Seite des Raumes aus hat es den Anschein, als stünden ihm Tränen in den Augen, große Pfützen stehenden Wassers. Ich wende den Blick ab und schaue wieder zum Fenster hinaus, keine Ahnung, was ich zu ihm sagen soll. Nicht die leiseste Ahnung.
4
Ein schreckliches, lautes Geräusch erfüllt mein Zimmer, eine schrille, brutale Woge von Lärm rast in die Dunkelheit, und ich setze mich auf und schreie. Er ist da, aber ich bin noch nicht so weit, mein Herz explodiert in der Brust, weil er da ist, es ist zu früh, es geschieht jetzt.
Aber es ist nur das Telefon, dieses grässliche Schrillen, es ist bloß der Festnetzanschluss. Ich schwitze, meine Hand krallt sich in meine Brust, und ich hocke zitternd auf meiner dünnen Matratze auf dem Fußboden, die ich als Bett bezeichne.
Es ist bloß mein dämliches Telefon.
»Ja. Hallo?«
»Hank? Was machst du?«
»Was ich mache?« Ich schaue auf die Uhr. Es ist Viertel vor fünf. »Ich schlafe. Ich habe geträumt.«
»Tut mir leid. Tut mir leid. Aber ich brauche deine Hilfe, ich brauche wirklich deine Hilfe, Henny.«
Ich atme tief durch, Schweiß erkaltet auf meiner Stirn, der Schock und die Konfusion gehen rasch in Ärger über. Natürlich. Meine Schwester ist der einzige Mensch, der mich um fünf Uhr morgens anrufen würde, und sie ist auch der einzige Mensch, der mich noch Henny nennt, ein schauderhafter Spitzname aus meiner Kindheit. Er klingt nach einem Varieté-Komödianten oder einem kleinen, verwirrten Vogel.
»Wo bist du, Nico?« Meine Stimme ist rau vom Schlaf. »Alles in Ordnung?«
»Ich bin daheim. Ich flippe aus.« Daheim ist das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, in dem Nico noch immer wohnt, das renovierte rote Backstein-Farmhaus unseres Großvaters auf sechstausend sanft gewellten Quadratme tern Land an der Little Pond Road. Ich gehe die Litanei der Gründe durch, weswegen mich meine Schwester zu dieser gottlosen Stunde mit solcher Dringlichkeit anrufen könn te. Geld für die Miete. Sie will irgendwohin. Flugzeugticket, Lebensmittel. Letztes Mal war ihr Fahrrad »gestohlen« worden; sie hatte es auf einer Party an einen Freund eines Freundes verliehen und nicht zurückbekommen.
»Also, was ist los?«
»Es ist Derek. Heute Nacht ist er nicht nach Hause gekommen.«
Ich lege
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