Der letzte Regent: Roman (German Edition)
den dunklen Zugang, und halte den Kopf gesenkt. Zwei Identifikatoren nähern sich.
Xavius sprang in die Lücke zwischen zwei schiefen Gebäuden, deren violette Wände sich in einer Höhe von mehreren Metern trafen – die Häuser schienen aneinanderzulehnen, sich gegenseitig zu stützen. Eine Tür stand halb offen, und dahinter lockte Dunkelheit. Er widerstand der Versuchung, noch einmal hochzusehen, bevor er das Gebäude betrat. Die Sensoren seiner Mikromaschinen wiesen ihn auf zwei mit Antigrav ausgestattete Servitoren hin, die wenige Meter über der Gasse flogen und nach zu verhaftenden Personen suchten, nach Angehörigen von Minerva und verdächtigen Delegierten der Permanenten Konferenz. Sie waren in der Lage, Gesichter zu identifizieren, und vielleicht ließ Jarqez Vandover, Generalkonsul und Leiter der ASE auf Bluestone, inzwischen nach ihm suchen.
»Steckt Gladfelter dahinter?«, fragte Xavius leise. Die Okulare passten seine Augen an, und die Finsternis gab Konturen und Objekte preis: auf dreibeinigen Gerüsten ruhende Bilder, die größtenteils wirre Linien zeigten, zweidimensionale farbige Gespinste, aus denen stilisierte Augen starrten, oder Landschaften, mit nur wenigen Strichen hingeworfen. Daneben standen Objekte, die wie unfertige Statuen aussahen, oder wie Statuen mit fehlerhaftem Materialgedächtnis: Augen, Nase und Mund an den falschen Stellen, Arme wie dünne Zweige und zusammengewachsene Beine.
Wir sind in einem Atelier, sagte der Chronass. Setz dich in den Sessel. Ja, in den Sessel dort in der Ecke.
»Dies ist Kunst, nicht wahr?«, fragte Xavius leise, betrachtete die Bilder und Skulpturen und erinnerte sich an Salyard. »›Seit Jahrhunderten gibt es im Endurium keine Kunst mehr‹, hat Salyard gesagt. Als ob das eine Rolle spielen würde. Nichts ist so ineffizient wie Kunst. Welchen praktischen Zweck erfüllt sie?«
Setz dich in den Sessel dort, Xavius.
Die Polster knarrten leise, als er sich hineinsinken ließ. Xavius saß im Sessel, von Dunkelheit umhüllt, und fühlte sich seltsam in diesem Atelier. Die Geräusche der Stadt und das Brummen der Servitoren über der Gasse wichen zurück, und Stille kroch heran. So still war es im Park vor dem Krankenhaus gewesen, und als er den Kopf hob, sah er die Blätter von Bäumen, nicht blau, sondern grün, und in der Nähe plätscherte das Wasser eines Baches, klar wie Glas.
Er saß nicht mehr in einem Sessel, sondern auf einem Felsen, in Begleitung eines Mannes um die dreißig, der vorn, direkt am Ufer, unruhig auf und ab ging. Die Personifizierung des Chronass trug auch diesmal eine Kombination aus blauer Seide, aber sie saß nicht mehr hauteng. Der Körper darunter schien abgemagert zu sein, das Haar war wirr, und das Gesicht mit den hohlen Wangen wirkte eingefallen.
Bei ihrer letzten Begegnung an diesem Ort hatten sie ein Programm aus der Unterhaltungsbibliothek eines Transferschiffes benutzt. Doch diesmal fehlte der eingeblendete Hinweis auf eine virtuelle Realität. Dieses Treffen fand in Xavius’ Kopf statt, in seinem Bewusstsein.
»Es geht uns beiden nicht besonders gut, Xavius«, sagte der Chronass und gestikulierte vage. »Der letzte Transferschock hat uns sehr zugesetzt, und wir erholen uns nicht so schnell, wie wir beide es uns wünschen, obwohl man in der Diplomatischen Vertretung versucht hat, uns mit der Wissenschaft des Enduriums zu helfen. Ich fürchte allerdings, dass es den Ärzten nicht nur darum ging, unsere Zellen zu regenerieren. Vermutlich haben sie auch versucht, uns in den Kopf zu schauen. Das Potenzial der Mikromaschinen ist noch immer eingeschränkt, obwohl es möglich gewesen wäre, den Schwarm zu erneuern. Vielleicht will man auf diese Weise über den Einsatz eines Sifters hinwegtäuschen.«
»Was ist los, Chronass?«, fragte Xavius. »Was geht vor? Warum ist der Tod des Regenten bekannt gegeben worden? Wollte das Gremium nicht damit warten, bis …«
»Bis zum erfolgreichen Abschluss unserer Mission, ja. In gewisser Weise ist sie erfolgreich abgeschlossen. Ich meine, Rogge und die anderen führenden Köpfe von Minerva sind verhaftet.«
»Es fehlen Beweise dafür, dass sie den Regenten ermordet haben.«
Der Chronass blieb stehen, legte die Hände an die Hüften und sah zu Xavius hoch. »Ich bitte dich! Haben dir Rogge, Laurania und die anderen Zweifel eingeredet?«
»Es fehlen klare Beweise«, beharrte Xavius mit einem gewissen Trotz, der ihn erstaunte. »Darin bestand unser Auftrag. Wir sollten klare
Weitere Kostenlose Bücher