Der letzte Regent: Roman (German Edition)
blieb, überrascht nach Luft zu schnappen. Von einem Augenblick zum anderen stand sie direkt vor Jarqez Vandover und drückte ihm den Lauf der Waffe an die Kehle. »Noch ein Wort, und der Verschlinger bekommt eine zweite Mahlzeit!«
»Priby …« Laurania kam näher und leuchtete mit ihrer Lampe in ein zorniges Gesicht. »Lass das. Wir verlieren nur Zeit. Stell unsere Position fest, und finde heraus, wo sich der nächste Stützpunkt befindet.«
Sie leuchtete nach unten, und im Schein der Lampe sah Xavius, wie an vielen Stellen grauweiße Stängel aus dem Boden kamen. Einige von ihnen kippten zur Seite, schwangen dann langsam im Kreis, wie auf der Suche nach etwas.
»Was ist das?«, fragte er.
»Rezeptoren«, sagte Laurania, während Pribylla den Navigator einschaltete, ihn justierte und die Anzeigen des kleinen Displays betrachtete. »Von diesem Verschlinger, oder vielleicht von anderen. Die Verschlinger sind wie … Schleimpilze. Im Boden unter dem Wald von Bluestone erstrecken sich riesige Plasmodien oder vielleicht ein einziges, globales Plasmodium, und die Verschlinger ähneln Amöben, hervorgegangen aus den Sporen der Fruchtkörper. Sie ernähren sich vom organischen Material, das aus den verschiedenen Ebenen des Waldes bis hierher auf den Boden fällt. Nach der offiziellen Klassifikation gibt es neunundzwanzig solche Ebenen, aber unsere Wanderer und Kuriere unterscheiden etwa vierzig, jeweils bis zu zwanzig Meter hoch.«
»Soll das heißen, der Wald ist fast achthundert Meter hoch?« Xavius schaute nach oben und fragte sich, ob es hier unten einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab. Vielleicht blieb es hier für immer dunkel, wie am Grund der Ozeane.
»An manchen Stellen ist er bis anderthalb Kilometer hoch«, sagte Laurania. Es klang fast stolz, und Xavius fragte sich, ob sie von Bluestone stammte. »Bäume wachsen auf Bäumen, die ihrerseits auf Bäumen stehen …«
»Willst du ihm den ganzen Wald erklären?«, erklang Pribyllas schroffe Stimme. »Der nächste Stützpunkt ist fünfzig Kilometer entfernt.«
»Das schaffen wir nie!«, entfuhr es Laurania erschrocken.
»Uns bleibt also nichts anderes übrig, als einen Notruf zu senden«, sagte Vandover hoffnungsvoll.
Pribylla warf ihm einen verächtlichen Blick zu, hielt den Pulser in der einen und den Navigator in der anderen Hand. Sie drehte sich langsam, während sich unter ihnen beim Wrack ein Buckel im amorphen Leib des Verschlingers bildete und sich langsam in Richtung des Astes dehnte, auf dem sie standen. Vandover versuchte aus zuweichen, aber Laurania stand ihm im Weg.
»Sieben Kilometer westlich von hier befindet sich ein Nebenarm des Midon«, sagte Pribylla und blickte dabei auf die Anzeigen des Navigators. »Bis dorthin könnten wir es in zwei Stunden schaffen. Auf dem Wasser kommen wir schneller voran und bieten dem Wald ein weniger klares Ziel.«
»Ich nehme an, Sie haben auch an ein Boot gedacht.«
»Noch ein Wort, Vandover, und ich stoße Sie hinunter, ob es dem Chronisten passt oder nicht!«
»Priby?«
»Was ist?«, fragte Pribylla giftig.
»Ich fürchte, Vandover hat in einem Punkt recht. Die Latenzzeit könnte wesentlich kürzer sein als zwei Stunden. Der Verschlinger hat uns bemerkt, ohne dass wir seine Rezeptoren berührt haben. Er stülpt uns seinen Magen entgegen.«
»Das ganze verdammte Ding ist ein Magen.« Pribylla winkte nach Westen. »Also los.«
Sie machten sich auf den Weg.
* * *
Unter anderen Umständen wären sie auf dem Boden vielleicht schneller vorangekommen. Dort gab es größere freie Bereiche zwischen den gewaltigen Baumstämmen, oft ohne Nesselfäden und die lianenartigen Faserstränge, die dick wie ein Oberschenkel sein konnten, aber auch viel dünner – manche von ihnen durchmaßen kaum mehr als ein Haar und waren in der Dunkelheit nur dann zu sehen, wenn sie im Licht von Lauranias Lampe auftauchten. Berührungen ließen sich gar nicht vermeiden. Zuerst verfluchte Pribylla Xavius’ und Vandovers Ungeschick, warf ihnen sogar vor, Gefahren provozieren und damit Druck auf sie ausüben zu wollen, damit sie einen Notruf zuließ, aber schließlich verfiel sie in ein verbissenes Schweigen, als sie in der zweiten Ebene des Waldes über Äste eilten und ihr Gewicht manchmal dünneren Zweigen anvertrauen mussten, die bedrohlich unter ihnen knackten, während einige Meter weiter unten auf dem dunklen Boden des Waldes die Rezeptoren des Plasmodiums nach Beute suchten. Diese Augen und Ohren der Verschlinger
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